Gelebte Vielfalt ist längst Alltag an deutschen Schulen. Klassenverbände werden immer diverser, die Heterogenität innerhalb der Schülerschaft steigt. Seit Jahren befasst sich die Schulpädagogik daher mit Möglichkeiten und Strategien, Schülerinnen und Schüler individuell zu fördern und auf ihre jeweiligen Bedürfnisse und Defizite einzugehen. Meist geschieht dies unter der Fahne der „Binnendifferenzierung“, welche die „didaktischen, methodischen und organisatorischen Maßnahmen, die im Unterricht innerhalb einer Schulklasse getroffen werden können, um der Unterschiedlichkeit der Schüler – vor allem im Blick auf ihre optimale individuelle Förderung – gerecht zu werden“ (Heymann, 2010) in einem Begriff vereint.
Lehrende allein können diese Aufgabe häufig kaum meistern. Wie auch, möchte man fragen, vor dem Hintergrund von Klassengrößen, die nicht selten 30 Schülerinnen und Schüler überschreiten? Für mehr Personal, das sich stärker auf einzelne Lernende konzentrieren kann, fehlt es meist an Ressourcen und Zeit. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass der Bildungserfolg in Deutschland stark von der Herkunft der Schüler*innen abhängt.
Bislang nur einzelne Leuchtturmprojekte
Gleichwohl ist in den letzten Jahren die Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage durch den Einsatz digitaler Medien entstanden. Die Fortschritte auf dem Feld der künstlichen Intelligenz sowie verschiedene Forschungsprojekte zeigen, dass digitale Medien ein großes Potenzial für personalisiertes Lernen bergen. Bereits im Jahr 2015 kamen die beiden Wissenschaftler Richard Heinen und Michael Kerres im Rahmen ihrer Studie „Individuelle Förderung mit digitalen Medien“ zu dem Schluss, dass „individuelle Förderung [nur] funktioniert […], wenn Lernprozesse bei dem Einzelnen angeregt und intensiviert werden. Digitale Medien bieten vielfältige Möglichkeiten, um solche Lernprozesse zu unterstützen.“ (Heinen, Kerres, 2015).
Doch wie kann dies konkret aussehen? Ein Beispiel hierfür ist das Projekt HyperMind, das den Einsatz und die Potenziale von künstlicher Intelligenz in der digitalen Bildung untersucht. Im Zuge dessen wurde ein adaptives Schulbuch entwickelt, welches unter anderem mit Hilfe von Eye-Tracking den individuellen Lernstand und Verständnisgrad der Anwender*innen messen und den Lernstoff daraufhin optimieren kann.
So wegweisend dieses Projekt auch klingen mag, der Einsatz digitaler Medien zur individuellen Förderungen von Schülerinnen und Schülern ist bisher noch ein Randthema. Bislang gibt es kaum Studien und Untersuchungen diesbezüglich. Um dies zu ändern, hat die Robert Bosch Stiftung jüngst ihre Studie „Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien: Ein roter Faden“ veröffentlicht. Mitunter kontrovers diskutiert, stellen die Autor*innen Wayne Holmes, Stamatina Anastopoulou, Heike Schaumburg und Manolis Mavrikis aktuelle internationale Erkenntnisse zusammen und leiten daraus Empfehlungen für eine bessere Nutzung der Potenziale digitaler Medien für das personalisierte Lernen ab.
Personalisierung im Fokus
Personalisierung an sich ist ein fester Bestandteil fast all unserer Online-Aktivitäten. Ob es sich um den persönlichen Facebook oder Instagram Feed, die Netflix-Startseite oder den präferierten Online Shop handelt – überall begegnen uns Informationen und Produkte, die auf unsere individuellen Bedürfnisse abgestimmt sind. Grundlage hierfür ist unser Nutzerverhalten auf der jeweiligen Plattform. Anhand der Informationen, die wir hinterlassen (geöffnete Artikelseiten, Käufe, angesehene Filme etc.), entsteht eine Art Nutzer-Persona, auf die alle weiteren Empfehlungen und Informationen angepasst werden. Die hierfür notwendigen Algorithmen werden immer präziser, das Nutzer-Erlebnis für den Einzelnen damit immer komfortabler.
Doch was bedeutet personalisiertes Lernen konkret im schulischen Kontext? Die Autor*innen der Studie befassen sich zur Beantwortung dieser Frage mit unterschiedlichen Theorien und Modellen und leiten daraus eine Art Personalisierungsfeld ab:
Personalisierung kann sich beziehen auf
- das Lernziel – warum soll etwas Bestimmtes gelernt werden?
- den Lernansatz – wie soll etwas gelernt werden?
- die Lerninhalte – was soll gelernt werden?
- die Lernpfade und das Lerntempo – wann soll etwas gelernt werden?
- den/die Lernende/-n oder die Lerngruppe – wer soll etwas lernen?
- den Lernkontext – wo soll etwas gelernt werden?
(Homes, Anastopoulou, Schaumburg, Mavrikis, 2018, 16)
Dabei unterscheiden sie zwischen einer Mikro- und einer Makroebene personalisierten Lernens. Die Makroebene versammelt die Lernziele, die Lernansätze und den Lerninhalt, während die Mikroebene Lernpfade, Lerntempo, Sozialform und den Lernkontext beinhaltet. Um erfolgreiche digitale Lerninhalte zu produzieren, müssen beide Ebenen samt ihrer jeweilige Elemente berücksichtig werden. Als Beispiele hierfür werden intelligente tutorielle Systeme (ITS), Explorative Lernumgebungen (Crystal Island, iTalk2Learn etc.), intelligente Lernmanagementsysteme (LMS), Lernnetzwerk-Orchestratoren (LNO) und digitale Lernspiele genannt.
Inwiefern die genannten digitalen Lernmedien bzw. -methoden in Deutschland Anwendung finden, ist laut der Autor*innen ungewiss, da es diesbezüglich noch keine Erhebungen gibt.
Herausforderungen bei der Personalisierung
Neben den unterschiedlichen Einsatzfeldern und Personalisierungsebenen birgt das personalisierte Lernen mit digitalen Medien im Schulunterricht auch einige Herausforderungen. Hierzu zählen altbekannte Faktoren, wie etwa die fehlende oder ungenügende technische Infrastruktur an Schulen, die Kosten, der Datenschutz und die notwendigen Weiterbildungen. Aber auch andere mögliche Problemfelder werden aufgeführt. Etwa das Fehlen eines reflektierten Umgangs mit der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler, das dazu führen kann, bestehende Ungleichheiten zu verstärken. Ferner kann es, so ein Zwischenfazit, zu Interessenskonflikten zwischen der Gewährleistung von Online-Sicherheit und dem Wunsch, Lernenden selbst die Steuerung ihres Lernprozesses zu überlassen, kommen.
Praxisbeispiele zur eigenen Anwendung
Ein ganzes Kapitel des Studienberichts widmen die Autor*innen einer Übersicht von Praxisbeispielen digitaler Medien für das personalisierte Lernen. Diese werden in mehreren Tabellen hinsichtlich der erwähnten Makro- und Mikroebenen, der Kosten, Wissensgebiete, dem Einsatz inner- und außerhalb der Schule bzw. des Unterrichts gegliedert. Zudem werden sie einzeln vorgestellt und mit Empfehlungen ausgestattet.
Leitlinien zum Einsatz digitaler Medien
Vor die abschließenden Handlungsempfehlungen ihrer Studie – gewissermaßen als eine Art Ergebnis – stellen Homes, Anastopoulou, Schaumburg und Mavrikis „empirisch gestützte Leitlinien für die Einführung personalisierten Lernens mit digitalen Medien“. Diese richten sich an Politik, Schulen und Lehrkräfte und lauten wie folgt:
- Die Pädagogik voranstellen
- Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien als Teil eines Blended-Learning-Ansatzes einführen
- Die Einführung personalisierten Lernens mit digitalen Medien als Schulentwicklungsprozess begreifen
- Fachliche Weiterbildung sicherstellen um Schulentwicklungsprozesse zu fördern
- Lehrerkooperation als Grundlage für erfolgreiche Schulentwicklung fördern
- Zur Förderung von Schulentwicklung Veränderungsmanagement betreiben
- Den Lehrkräften während des Veränderungsprozesses genügend Zeit einräumen, um ihre Unterrichtspraktiken anzupassen
- Zur Umsetzung personalisierten Lernens mit digitalen Medien für eine solide und verlässliche Infrastruktur sorgen
- Für die Flexibilität sorgen, die personalisiertes Lernen mit digitalen Medien erfordert
- Für Flexibilität hinsichtlich der curricularen Zielsetzungen sorgen
- Für Flexibilität hinsichtlich der Beurteilungsformen sorgen
- Sicherheit gewährleisten, um selbstbestimmtes Lernen zu ermöglichen
- Verstehen, wie digitale Medien Daten nutzen, um Lernen zu personalisieren
Die abschließenden Handlungsempfehlungen richten sich an die Bildungspolitik, die administrative Ebene, die Forschungsebene sowie an Politik, Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen. Sie sind relativ unkonkret und geben eher allgemeine Ratschläge, die in ähnlicher Form bereits Teil des digitalen Bildungsdiskurses sind.
Fazit
Für Viele mag personalisiertes Lernen mit digitalen Medien noch weit in der Zukunft liegen. Zu sehr mangelt es an der notwendigen Infrastruktur und den Ressourcen. Dennoch ist die Studie der Robert Bosch Stiftung keine pure Zukunftsmusik. Sie ist vielmehr – wie der Untertitel schon verheißt – ein roter Faden. Die Erkenntnisse, Leitlinien und Handlungsempfehlungen lassen sich bereits heute anwenden und dienen nicht nur dazu, Schulen auf die Zukunft vorzubereiten, sondern auch, den Status-quo zu hinterfragen und zu überprüfen, was schon jetzt getan werden kann, um ein personalisierteres Lernen zu ermöglichen.
Tobias Börner