„Lebenslanges NRW-Verbot“: Wie sich ein US-Journalist den Unmut deutscher Abiturient*innen zuzog

„Lebenslanges NRW-Verbot“: Wie sich ein US-Journalist den Unmut deutscher Abiturient*innen zuzog
27
Apr

„Lebenslanges NRW-Verbot!“, „Wegen dir werde ich arbeitslos sein, du Hund“, „Entschuldige dich!“ – das sind nur drei der Kommentare, die sich unter dem jüngsten Instagram-Post des US-amerikanischen Journalisten Farhad Manjoo finden lassen. Aber was hat Manjoo mit Nordrhein-Westfalen zu tun? Und warum sind die Kommentare auf Deutsch? Berechtigte Fragen.

Die Antwort ist so simpel wie bizarr: Ein Meinungsbeitrag, den Manjoo für die New York Times geschrieben hat, war Bestandteil einer der drei Wahlmöglichkeiten für die Abiturprüfung im Fach Englisch in Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland. In seinem Beitrag geht der Journalist unter anderem darauf ein, dass der Traum vom Eigenheim für viele Amerikaner inzwischen unerreichbar sei. Unter anderem schrieb er darin von „Little boxes made of ticky-tacky“ und vom „urban sprawl“.

Damit zog er den Unmut der Abiturient*innen auf sich. Er solle, so der Tenor vieler Kommentare, doch bitte „normale Wörter“ verwenden, sich „in richtigem Englisch“ ausdrücken. Die Formulierungen seien zu schwierig und den Prüflingen unbekannt gewesen, so der Verwurf. Dadurch hätten sie die Fragen, die zum Text gestellt wurden, nicht adäquat beantworten können.

Content is key

„Context is key“ ist ein – um bei den Anglizismen zu bleiben – häufig verwendetes Sprichwort. Denn zunächst einmal sind Manjoos Formulierungen keineswegs Fantasiegespinste. Die kleinen Boxen aus ticky-tacky sind eine Anspielung auf ein sozialkritisches Lied der Liedermacherin und Politaktivistin Malvina Reynolds aus den frühen 1960er Jahren (Seriengucker*innen vielleicht noch als Titelmelodie der Serie „Weeds“ bekannt). Darin geht es – wie in Manjoos Kommentar – um die Mittelklasse-Vorstadtsiedlungen, die damals überall aus dem Boden zu sprießen schienen (auch „urban sprawl“ genannt). Dort – man kennt es aus vielen US-Filmen – sahen alle Häuser nahezu gleich aus, die Väter gingen zur Arbeit, die Mütter waren Hausfrauen. Der Song kommentiert humorvoll, aber auch beißend, die Konformität, die an solchen Orten gefördert wird. Und er ist Teil des kulturellen Gedächtnisses der USA. Dementsprechend sicher konnte sich Manjoo sein, dass seine amerikanischen Leser*innen diese Referenz verstehen würden.

Mit einiger Sicherheit darf man davon ausgehen, dass Farhad Manjoo beim Verfassen seines Textes nicht an nordrhein-westfälische Abiturient*innen gedacht hat. Geschweige denn an deren englische Sprachkompetenz(en). Es erscheint auch unwahrscheinlich, dass er beim nordrhein-westfälischen Kultusministerium vorstellig wurde, um seinen Artikel als Text für die Abiturprüfungen vorzuschlagen. Dennoch bekommt er den geballten Unmut der Abiturient*innen ab. Ein Großteil der Kommentare ist auf Deutsch. Einige Kommentator*innen haben versucht, ihren Zorn ins Englische zu übertragen. Bei der Lektüre dieser Kommentare kann man durchaus auf die Idee kommen, dass ihr angebliches Versagen in der Prüfung nicht mit Manjoos Text, sondern vielmehr mit generellen Defiziten in der englischen Sprache zu begründen ist.

Rassismus und Relativierungen

Nun könnte man das alles als süffisante Anekdote betrachten. Allerdings klingt in einigen Kommentaren ein mal subtiler, mal sehr deutlicher Rassismus an. Da werden Witze über den Vornamen des Journalisten gemacht, seine Hautfarbe kommentiert und rassistische Stereotype bedient. Einige der kritischen Stimmen – die es auch gibt – weisen ihre Mitkommentator*innen daraufhin. Doch von vielen wird es einfach nur als Spaß angesehen. Andere argumentieren, Manjoo spräche ja kein Deutsch und würde sicherlich nicht die Kommentare in den Google Translator kopieren. Abgesehen davon, dass es auch für Instagram-Kommentare Übersetzungsfunktionen gibt, ist diese Argumentation eine gefährliche Relativierung. Auch Manjoo selbst hat inzwischen mitbekommen, dass sein Text Teil einer wichtigen Prüfung war und viele junge Menschen verärgert hat. Er zeigte sich verwundert darüber, dass ausgerechnet sein Text ausgewählt wurde.

Paradebeispiel für die Relevanz von Medienkompetenz

Dieser Fall zeigt deutlich, welch wichtige Rolle Medienkompetenzbildung heutzutage hat. Zum einen lässt sich hieran illustrieren, wie schnell Adressat*innen verwechselt werden können. Ruft ein Abiturtext Unmut bei Abiturient*innen auf, ist natürlich nicht dessen Autor zu kritisieren, sondern diejenigen, die den Text ausgewählt und für passend erachtet haben. Auch eine kritische Selbstreflexion könnte hier angebracht sein. Eine Auseinandersetzung mit dem Medium, in dem er veröffentlicht wurde – in diesem Fall der New York Times – gibt weiterhin Aufschluss darüber, dass das Zielpublikum hauptsächlich aus US-Amerikaner*innen besteht. Ein Blick auf die Kommentare zeigt wiederum, wie schnell sich Gruppendynamiken online entwickeln und manifestieren können und wie schmal der Grad für viele zu sein scheint, in Drohungen und diskriminierende Sprachmuster zu verfallen.

Ausgangspunkt für Diskussionen mit Schüler*innen

Statt also den ganzen Vorgang schmunzelnd als fehlgeleite Empörung nordrhein-westfälischer Abiturient*innen abzutun, sollte er als Fallbeispiel genutzt werden. Das Szenario ist für viele Schüler*innen nachvollziehbar, weil nah an ihrem schulischen Alltag und an ihren Mediennutzungsgewohnheiten. Es bietet sich für Diskussionen über (Gruppen-)Dynamiken, Medienkompetenz und Social Media an. Und es eignet sich, um klar aufzuzeigen, wie gewalttätige und diskriminierende Sprache allzu schnell Eingang in den Alltag finden und akzeptiert werden.

Tobias Börner