Holocaust-Erinnerungskultur mit digitalen Medien fördern

Holocaust-Erinnerungskultur mit digitalen Medien fördern
8
Mai

In diesem Jahr jährt sich das Ende des zweiten Weltkriegs zum 75. Mal. Bereits am 27. Januar wurde der internationale Holocaust-Gedenktag mit zahlreichen Zeremonien weltweit begangen. Eine Vielzahl an Artikeln, Dokumentationen, Nachrichtensendungen und Ausstellungen widmen sich dem Erinnern an die nationalsozialistische Schreckensherrschaft.  Inzwischen gibt es auch eine Vielzahl an digital verfügbaren Materialien zu diesem Thema. Inwiefern eignen sich diese für den Unterricht?

Erinnern ist immer ein Prozess der Gegenwart

Dass Erinnern immer ein Prozess ist, der in der Gegenwart geschieht und der hilft, diese zu verstehen, Geschehnisse einzuordnen, die eigene Rolle und (besonders nationale) Identität zu reflektieren und Lehren daraus zu ziehen, sollte dabei bedacht werden. So zeigen die aktuellen Attentate in Halle und Hanau sowie die Ermordung des hessischen Politikers Walter Lübcke deutlich, dass die Thematik des Holocaust im schulischen Umfeld intensiv in einer Art und Weise behandelt werden muss, die über die reine Wissensvermittlung hinausgeht. Dies ist notwendig, damit eine Sensibilisierung für die zahlreichen schrecklichen Verbrechen der Zeit des Nationalsozialismus geschehen kann und Empathie für deren Opfer gefördert wird.

Wie lässt sich Holocaust-Erinnerung vermitteln?

Doch wie lässt sich die Erinnerung an den Holocaust und den Nationalsozialismus heutzutage vermitteln? Eine zentrale Rolle kommt hierbei den Schulen zu. Seit Jahrzehnten sind zweiter Weltkrieg, Holocaust und Nationalsozialismus fest als Themen in den Lehrplänen verankert. Vor allem – aber nicht nur – im Geschichtsunterricht. Die Zugänge und Medien variieren dabei durchaus. Von Gedenkstättenbesuchen über das gemeinsame Schauen von Spielfilmen und Dokumentationen hin zur Lektüre von Sekundärquellen und (Auto-)Biografien bzw. Romanen sowie zu – in zunehmend einzelnen Fällen – Gesprächen mit Zeitzeug*innen.

Das Wegfallen der Zeitzeug*innengeneration stellt dabei vielfach ein Problem dar, denn die Unmittelbarkeit und Authentizität, mit der diese über ihre Erlebnisse im direkten Kontakt mit Schüler*innen erzählen können, lässt sich schwer ersetzen. Gleichzeitig fordert etwa der Literaturwissenschaftler und Holocaust-Forscher Werner Nell eine bessere schulische Vermittlung des Themas. Ihm erscheine die Beschäftigung mit der Schoa im Schulunterricht als sehr ritualisiert, es gebe ein paar Stunden dazu und einen obligatorischer Besuch in einer Gedenkstätte, so Nell in einem Interview mit der Katholischen Nachrichtenagentur KNA. Nell schlägt vor, bereits bei der Lehrer*innenausbildung anzusetzen.

Veränderte Mediennutzungsgewohnheiten adressieren

Hinzu kommen die sich durch die Digitalisierung verändernden Mediengewohnheiten. Viele Lehrer*innen stellen sich die Frage, inwiefern es noch zeitgemäß ist, mit klassischen Dokumentationen zu arbeiten und ob es nicht Wege gibt, digitale Medien in die Holocaust-Vermittlung miteinzubeziehen, um Schüler*innen stärker in ihrer alltäglichen Mediennutzung zu erreichen. Gerade vor dem Hintergrund von Fake News und Holocaust-Relativierungen im Netz und in den sozialen Netzwerken, erscheint diese Frage mehr als gerechtfertigt.

Erinnerungsvermittlung mit digitalen Medien

Prof. Dr. Wulf Kansteiner von der Universität Aarhus sieht unter anderem in Social-Media-Plattformen und der Gaming-Kultur Chancen, Digital Natives ihrer Mediennutzung entsprechend zu erreichen. Inzwischen gibt es sowohl an Gedenkstätten und -orten selbst, als auch primär im Internet eine wachsende Auswahl an Angeboten. So lässt sich etwa die Gedenkstätte Bergen-Belsen mit Hilfe einer Augmented-Reality-Anwendung in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzen. Auch Datenbanken mit Zeitzeug*inneninterviews, interaktiven Karten und Historytelling-Einheiten sind bereits verfügbar. Eine Anlaufstelle, die eine Übersicht über verschiedene digitale Angebote zur Erinnerungsvermittlung im Unterricht bietet, ist der Schwerpunkt „Vernetztes Erinnern“ der Bundeszentrale für politische Bildung.

Holocaust-Erinnerung mit / auf Social-Media-Plattformen

Zwei Beispiele für die Vermittlung von Holocaust-Erinnerung mit Hilfe von bzw. auf Social-Media-Plattformen illustrieren die große Bandbreite bereits bestehender Projekte. Zum einen handelt es sich um die Social-Media-Profile des Auschwitz Museums, das über eine eigene Social-Media-Abteilung verfügt und Auftritte auf Facebook, Twitter und Instagram betreibt. Pawel Sawicki, Leiter der Abteilung, fasst die Social-Media-Strategie des Museums wie folgt zusammen: «Wir wollen, dass Menschen uns erreichen können, uns Fragen stellen und so die Geschichte entdecken.»

Twitter Post des Auschwitz Museum (Quelle: Auschwitz Museum)

Dementsprechend werden die Social-Media-Kanäle für unterschiedliche Zwecke verwendet. So werden auf dem eigenen Instagram Account etwa Bilder anderer User*innen aus der Gedenkstätte ge-repostet und mit zusätzlichen Informationen kontextualisiert. Auch Einzelschicksale werden anhand von Bildern und kurzen Texten erzählt. Darüber hinaus wird auf dem Twitter Account auch das Verhalten in der Gedenkstätte selbst thematisiert. Schüler*innen können sich zudem via Direktnachricht an das Auschwitz Museum wenden und diesem Fragen stellen.

Mit Insta-Stories die Perspektive eines Opfers einnehmen

Handelt es sich bei den Profilen des Auschwitz Museums um die Social-Media-Auftritte einer erinnerungskulturellen Institution, illustriert das zweite Beispiel den Versuch der digitalen Erinnerungsvermittlung von Seiten eines privaten Akteurs. Der Instagram Account „eva.stories“ basiert auf dem wahren Schicksal der ungarischen Jüdin Eva Neyman, die von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Ihre Geschichte wurde in insgesamt 70 Insta-Stories verfilmt, die sie vom Einmarsch der Wehrmacht in Ungarn bis hin zur Deportation nach Auschwitz begleiten.  

Instagram Account eva.stories (Quelle: eva.stories)

Finanziert wurde das Projekt von dem israelischen Milliardär Mati Kochavi, der die Entscheidung, das Projekt für das soziale Netzwerk zu kreieren, damit begründet, dass dort die Zielgruppe zu finden sei, um die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten. Die Follower*innen werden scheinbar unmittelbar Teil von Evas Geschichte. Die Stories orientieren sich in ihren Inszenierungsmustern und ihrer Ästhetik an gängigen Insta-Stories. Ziel ist es unter anderem, User*innen auf emotionaler Ebene anzusprechen. Ob diese Unmittelbarkeit und emotionale Ansprache bzw. Einbindung das Wegfallen der Zeitzeug*innengeneration kompensieren kann, ist fraglich. Sie scheint jedoch einen anderen, weniger didaktisch erscheinenden, Zugang zum Thema zu ermöglichen.

Frage nach der Adäquatheit der Vermittlung

Inwiefern es sich hierbei um eine adäquate Form der Erinnerungsvermittlung handelt oder um eine zu starke Vereinfachung und Ästhetisierung, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die Frage nach der Angemessenheit eignet sich gut für den schulischen Unterricht in höheren Klassenstufen. Da die meisten Schüler*innen über Instagram Accounts verfügen, können sie sich selbst ein Bild machen und anschließend diskutieren, wie sie diese Form der Aufbereitung finden, unter anderem auch im Vergleich mit institutionellen Accounts, wie dem des Auschwitz Museums.

Lehrer*innen als Erinnerungsvermittler*innen

Die beiden vorgestellten Projekte können als Ergänzung zur Holocaustvermittlung im Unterricht dienen. Sie zeigen auf, dass digitale Medien durchaus zur Erinnerungsvermittlung verwendet werden können. Nach wie vor und wahrscheinlich wichtiger denn je, ist darüber hinaus die Rolle der Lehrer*innen als engagierte und bedachte Geschichts- und Erinnerungsvermittler*innen.

Tobias Börner

Die Aussagen Wulf Kansteiners sind folgender Quelle entnommen:

Kansteiner, W. (2018). Genocide memory, digital cultures, and the aesthetization of violence. Memory Studies, 7 (4), 403-408