TEIL 2 Fernunterrichts-Konzept 2.0? Die Schulen müssen ihre Hausaufgaben machen!

TEIL 2 Fernunterrichts-Konzept 2.0? Die Schulen müssen ihre Hausaufgaben machen!
7
Aug

In der Corona-Krise wurden die Schulen mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert und haben trotz der teils mangelhaften digitalen Ausstattung wertschätzende Rückmeldungen erhalten.

Achtung! Dies ist die Fortsetzung von https://excitingedu.de/fernunterrichts-konzept-2-0-teil1/

4. Distanzunterricht mit digitalen Medien

Der Unterricht im Klassenzimmer wird vermutlich noch bis weit ins neue Schuljahr hinein eine Mischung aus Präsenz- und digitalem Fernunterricht bleiben. Zur Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln müssen die Klassen der Sekundarstufe in Baden-Württemberg derzeit in zwei Gruppen aufgeteilt und in einem rollierenden System getrennt unterrichtet werden. Um die Unterrichtszeit möglichst sinnvoll und lernförderlich zu nutzen, verbinden einige Schulen die beiden Gruppen in den Hauptfächern direkt per Videokonferenz.

Im kontakt- und bewegungseingeschränkten Präsenzunterricht sind zur Einhaltung des Sicherheitsabstandes Teamarbeit, Gruppenarbeit und viele andere kreative und kommunikative Methoden nicht zulässig. Didaktisch wird es deshalb auf einen fragend-entwickelnden Frontalunterricht hinauslaufen. Mit Hilfe von digitalen Medien sind auch im Distanzunterricht Methoden wie Kooperation, Feedback, Kreativität und Kollaboration jenseits von frontalen Lehr- und Lernmethoden zeitgleich mit beiden Gruppen möglich.

Kasten 5: Anwendungen für den digital angereicherten (Fern-) Unterricht.

Kreatives Arbeiten: ComicLife, GreenScreen, GarageBand.

Lernprozessdiagnose: Kahoot, Socrative, Quizlet.

Eigene Schüler-Apps: Learning-Snacks, h5p, Learning-Apps.

Evaluationen und Feedback: MinnitBW, Edkimo, Nextcloud Forms.

Kollaboratives Arbeiten: Kialo, Scrumblr, Ethercalc.

Videoproduktion: Bildschirmaufnahme, iMovie, Explain Everything.

5. Bildungs- und Chancengerechtigkeit

Damit Schülerinnen und Schüler auf ihrem Bildungsweg aufgrund der Corona-Krise nicht massiv benachteiligt werden, bedarf es im Fernunterricht 2.0 verschiedener Maßnahmen zur Wahrung der Chancen- und Bildungsgerechtigkeit.

Das Land Baden-Württemberg hat am 15. Mai 2020 beschlossen 300.000 Endgeräte für Schulen mit Unterstützung durch den Bund zu finanzieren. Damit können in einer folgenden Corona-Welle 20% der SchülerInnen in Baden-Württemberg mit einem Leihgerät ausgestattet werden. Für eine nachhaltige Verwendung dieser Tablets und Laptops im Unterricht ist eine professionelle Betreuung über eine zentrale Mobilgeräteverwaltung, eine WLAN-Infrastruktur, fortgebildete Lehrerinnen und Lehrer und die Integration in das Medienkonzept der Schule zwingend erforderlich.

Einige Schulen in Baden-Württemberg haben zur Wahrung der Chancengerechtigkeit bereits während der ersten Corona-Welle so genannte „Study-Halls“ eingerichtet. Dabei wurde z. B. die Aula mit einer begrenzten Anzahl von Einzeltischen auf Distanz sowie getrennten Ein- und Ausgängen zum Stillarbeitsraum umfunktioniert. Die SchülerInnen haben im Rahmen des Study-Hall-Konzepts Zugang zu Tablets, Büchern, WLAN und Druckern. Study-Halls sind Orte zum Lernen für Schülerinnen und Schüler in der Notbetreuung, mit fehlenden Endgeräten, schlechter Datenverbindung oder sozialen Krisen zu Hause.

6. Einsatz von Videokonferenzen

In den letzten Wochen zeigte sich deutlich, dass auch im Fernunterricht die persönliche Begegnung und eine Präsenzzeit in der Schule hochgeschätzt werden. Dank Videokonferenzen war es trotz der Distanz möglich, in der Klassengemeinschaft synchrones Lernen zu ermöglichen. Dabei konnte sogar eine gute persönliche Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern aufgebaut werden. Als problematisch zeigte sich vor allem der rechtlich nicht eindeutig geklärte Umgang mit dem Videokonferenzsystem Zoom (Bild 3). Nach der Erlaubnis durch das Kultusministerium und der gleichzeitigen Androhung von rechtlichen Konsequenzen durch den Landesdatenschutzbeauftragten in Baden-Württemberg reagierten einige Schulleiter mit einem sofortigen Zoom-Verbot. Für die Schulgemeinschaft bedeutete eine solche Entscheidung mitten im etablierten und seit Wochen funktionierenden Fernunterricht einen Neustart mit einem nichtkommerziellen Video-Tool. Die DSGVO-konformen Konferenzsysteme zeigten einen wesentlich geringeren Funktionsumfang und konnten aufgrund der teils mangelnden Stabilität nicht von 30 Lernenden gleichzeitig genutzt werden. Vor diesem Hintergrund haben einzelne LehrerInnen frustriert aufgegeben und sind zum asynchronen Lernen mit wöchentlichen PDF-Arbeitsblättern zurückgekehrt.

Bild 3: Antwort des Kultusministeriums zur Erlaubnis von Zoom auf Twitter vom 04.05.2020.

Seit Ende Mai 2020 werden in Baden-Württemberg landesweit mit BigBlueButton (BBB) über die Moodle-Instanz des Landes Baden-Württemberg und mit Jitsi über die EduPool-Accounts der Kreismedienzentren zwei datenschutzkonforme Open-Source Videokonferenzsysteme angeboten. Nach der ersten Euphorie zeigten sich allerdings Nachteile wie eine fehlende iOS-Tablet-Bildschirmspiegelung z. B. für die interaktive Tafel App GoodNotes in BBB und Jitsi bzw. nicht vorhandene Breakout-Räume in Jitsi. Einzelne Schulen setzen inzwischen auf Nextcloud Talk über ein externes High-Performance-Backend. Am 24.06.2020 hat der Landesdatenschutzbeauftragte von Baden-Württemberg aufgrund der verbesserten Sicherheitsmerkmale die Warnung vor dem Videokonferenzdienst Zoom für den Einsatz an Schulen in BW aufgehoben.

7. Eigenverantwortung im Lernprozess

Eine Herausforderung für Schülerinnen und Schüler im Fernunterricht war die Notwendigkeit zur persönlichen Selbststeuerung des Lernens ohne Notendruck und drohende Nichtversetzung.

Ein Beispiel aus dem Fernunterricht des Autors war ein digitaler Mathe-Test ohne Noten mit sechs unterschiedlichen Aufgaben. Anhand des Ergebnisses der automatischen Korrektur wurden den Schülerinnen und Schülern die vorhandenen Defizite aufgezeigt. Über die Osterferien standen den Lernenden sechs zu den Aufgaben passende interaktive Übungsblätter zum freiwilligen Schließen der Wissenslücken zur Verfügung. Direkt nach den Osterferien wurde der gleiche Mathe-Test nur mit anderen Zahlenwerten ohne Noten wiederholt. Es zeigte sich hierbei ein deutlicher Lernerfolg (Bild 4), dessen Bedeutung mit der Klasse ausführlich diskutiert wurde. Ein weiteres Beispiel zur Förderung der Selbstorganisation beim Lernen ist die eigenständige Erarbeitung von neuem Wissen im Rahmen von asynchronen Lernphasen – egal ob mit oder ohne digitale Medien.

Auch im normalen Unterricht nach Corona sollten festgelegte Zeiträume mit eigenverantwortlichen Übungsphasen und der selbstorganisierten Erarbeitung von neuem Wissen ihren festen Platz an jeder Schule finden. Auf online-Konferenzen und im #TwitterLehrerzimmer wird bereits der „FREI-DAY“ als schulischer Lernbereich der Zukunft diskutiert.

Bild 4: Selbstständiges Lernen ohne Notendruck: Mathe-Test vor und nach den Ferien.

Fazit

Der Nutzen von digitalen Medien zum zeitgemäßen Lernen wurde durch die Corona-Krise für Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte offensichtlich. Es zeigte sich aber auch, dass die pädagogische Reichweite von digitalen Anwendungen Grenzen hat. Das menschliche Miteinander im Klassenzimmer, der Umgang mit Emotionen sowie die Dynamik im Präsenzunterricht lassen sich weder durch Mail-Kontakt, Audio-Chat noch durch Videokonferenzen ersetzen. Die soziale Dimension des Unterrichts wird niemals durch ausgeklügelte Algorithmen sowie durch künstliche Intelligenz durchdrungen werden. Digitale Medien sind gut und zielgerichtet eingesetzt als angemessene Hilfsmittel im Lernprozess zu sehen – mehr nicht, aber auch nicht weniger.

Aufgrund der beschriebenen Erfahrungen kann die Corona-Krise ein Ausgangspunkt für eine nachhaltige Schulentwicklung sein. Die Herausforderung besteht nun darin, jenseits der Entwicklung eines Fernunterrichtskonzept 2.0, die neuen Erkenntnisse für eine eigenverantwortliche und offene Lernkultur im Unterrichtsalltag fest zu verankern und mit den digitalen Möglichkeiten sinnvoll zu verknüpfen.

 

 

Über den Autor:

Dr. Patrick Bronner erhielt für den methodisch sinnvollen Einsatz von Smartphones und Tablets im Klassenzimmer den Deutschen Lehrerpreis 2016. Er unterrichtet am Friedrich-Gymnasium Freiburg die Fächer Mathematik und Physik, bildet Referendare aus, ist Fachberater und hält Vorträge & Fortbildungen zur zeitgemäßen digitalen Bildung.

Literatur:

Kultusministerium Baden-Württemberg: Konzept für einen Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen an den auf der Grundschule aufbauenden Schularten in Baden-Württemberg. 07.07.2020, Download: https://bit.ly/3iWAE3R

Hillmayr, D.; Reinhold, F.; Ziernwald, L.; Reiss, K.: Digitale Medien im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht der Sekundarstufe. Einsatzmöglichkeiten, Umsetzung und Wirksamkeit. 1. Auflage. – Münster: Waxmann (2017)

Krommer, A.; Wampfler, P.; Klee, W.: Impulse für das Lernen auf Distanz, Homepage des Bildungsportals NRW (Homepage: https://bit.ly/2XFXYu7)

Bronner, P.: Digitale Bildung: Alter Wein in neuen Schläuchen?!
Zeitschrift SchuleDigital, Friedrich-Verlag, 01/2020 (ePaper: https://bit.ly/2XGzDEd)

Bronner, P.: Digitale MINT-Bildung: Alter Wein in neuen Schläuchen?!
ExcitingEdu Webinar, Klett-Verlag, 25.05.2020 (Aufzeichnung: https://bit.ly/2Upp86e)

Bronner, P.: Der #WirBleibenZuhause Wettbewerb: Die Klopapier-Quarantäne-Maschine. Friedrich-Gymnasium Freiburg, 04/2020 (Video-Playlist: https://bit.ly/3eR2cVt)

Philippi, D.: Projekt Kreatives Schreiben: Erstellung eines e-Book im Fach Deutsch mit 193 Schüler-Beiträgen der Klassen 5-10 zur Corona-Krise. Kreisgymnasium Hochschwarzwald Neustadt, 06/2020 (ebook: https://bit.ly/2Yd07wf)

Weiterführende Informationen zu dem Thema:

Hinweis: Der Artikel wurde am 20.07.2020 verfasst und ist CC-BY-SA 4.0 lizensiert.

Blog: Weitere und aktuelle Perspektiven zum Fernunterricht mit digitalen Medien werden im Internet-Blog des Autors wöchentlich ergänzt (www.patrickbronner.de/unterricht).

Fortbildung: Der Autor bietet zum Thema des Artikels Webinare und pädagogische Tage an. Das Handout der Keynote kann kostenlos heruntergeladen werden (www.patrickbronner.de/fortbildung).