„Die ganze Schule als Spiel“ – Ein Interview mit Julian Ruckdäschel über Gamification, Fortnite & Lebensrealität(en)

„Die ganze Schule als Spiel“ – Ein Interview mit Julian Ruckdäschel über Gamification, Fortnite & Lebensrealität(en)
13
Mai

Nach einem Kurzvortrag des Lehrers und Medienpädagogen Julian Ruckdäschel zum Online-Game „Fortnite“ im Rahmen von #excitingedu regional, kam es auf Twitter zu einigen Missverständnissen und hitzigen Diskussionen (mehr dazu hier). Im Interview mit #excitingedu erläutert Ruckdäschel detailliert, was Lehrende aus dem Spiel für die Unterrichtsgestaltung lernen können, warum das Label „Ballerspiel“ zu kurz greift und wieso Games in Zukunft mehr Raum im Unterricht einnehmen sollten.

1. Was können Schulen und Lehrer für die Unterrichtsgestaltung lernen?

Julian Ruckdäschel (JR): Sie können daraus lernen, dass die Forderungen nach zeitgemäßer Bildung bei Schülern durchaus Anklang finden und in der Freizeit gelebt werden. In Verbindung mit einem Gamification-Ansatz führt dies zu einer Motivation bei Schüler*innen, die auch in der Schule durch zeitgemäßen Unterricht gefördert werden kann. D.h. in der Folge vielleicht auch, dass die Schüler*innen momentan das Lernen der nötigen Kompetenzen für das 21. Jahrhundert instinktiv suchen und eher in Online-Spielen finden. Eine mögliche Erklärung wäre, dass diese Kompetenzen in Schulen oft vernachlässigt werden.

2. Um welche 21st century Skills handelt es sich?

JR: In meinem Kurzvortrag habe ich kurz auf das allgemein recht bekannte 4K-Modell Bezug genommen: Kreativität, Kommunikation, Kollaboration und Kritisches Denken. Die finden alle irgendwo in Verbindung mit diesem Spiel statt. Die Spieler*innen kommunizieren innerhalb und vor allem auch außerhalb des Spiels ständig über bessere Routen, Baumöglichkeiten, Tasteneinstellungen, Verstecke und Gewinntaktiken. Die Kommunikation findet analog, in Echtzeit per Mikro, oder über YouTube unter den Videos statt. Hier beginnt auch schon die Kollaboration. Und auch diese setzt sich innerhalb des Spiels fort: Denn auch hier gibt es verschiedene Spielmodi, die aus der Schule sogar recht bekannt sind: Solo = Einzelarbeit, Duo = Partnerarbeit oder 4er-Gruppe = Gruppenarbeit.

Ein wichtiger Unterschied: Der*die Spieler*in darf selbst entscheiden, wie er*sie die „Aufgaben“ angehen will. Das ist einer der Punkte, die sich Fortnite von den erfolgreichsten Spielen der letzten Jahre (Minecraft, GTA,…) abgeschaut hat: Eine Open World, in der sich der*die Spieler*in frei bewegen kann und eigene Entscheidungen treffen kann. In Verbindung mit einem Art Level-System, kann der*die Spielende sich so immer weiter entwickeln. Allerdings nicht, um sich einen Vorteil im Spiel zu verschaffen, sondern um neue Kostüme und Items zu bekommen. Was wäre mit so einem System erst in einer Schule möglich…

3. Wie nah soll sich ihrer Meinung nach der Schulunterricht an die Lebensrealität/den Alltag von Schüler*innen annähern bzw. diesen widerspiegeln?

JR: Diese Frage hat in meinen Augen gar nicht so viel mit meinem Vortrag zu tun. Sich an der Lebensrealität der Schüler*innen zu orientieren, war schon Bestandteil in meinem Studium vor über 10 Jahren. Mit dieser Frage wurde mir eher eine Forderung unterstellt, die ich so gar nicht getätigt habe: „Spielt Fortnite in der Schule.“

Das ist so natürlich quatsch. Aber ich glaube, dass ein Spiel, das so viele Kinder derart begeistert und zum Lernen motiviert, einiges richtig macht. Daher ist meine Forderung: „Lasst uns die Mechaniken, die Fortnite verwendet, analysieren und überlegen, ob diese auch in der Schule angewendet werden können.“ Das kann bei kleinen Dingen anfangen, führt aber schnell zu Umwälzungen des Unterrichts und auch ein Stück weit des Schulsystems an sich. Dies werde ich aber einmal extra erläutern.

Zu den kleinen Dingen: Zum Start einer Aufgabe das Startsignal von Fortnite übernehmen, als motivierendes Gimmick Schatzkisten einbauen (das Öffnen führt nachweislich zu kleinen Dopaminausstößen), in Handwerken eine Fortnite-Harke basteln, im Sportunterricht der Jungs (was bisher unmöglich war!) Tanzchoreographien vorschlagen…

4. Fortnite wurde auf Twitter unter anderem immer wieder als „Ballerspiel“ bezeichnet. Wie schätzen Sie das Spiel ein?

JR: Fortnite ist natürlich insofern ein „Ballerspiel“, da es im Normalfall darum geht, alle Gegner umzubringen, bis man als Letzter übrig bleibt. Eine Reduktion darauf ist aber sicherlich nicht sinnvoll. Bei Spieler*innen gibt es immer mehrere Typen. Eine gängige, einfache Einteilung ist in die vier Kategorien Killers, Achievers, Socializers und Explorers. Und hier kann man schon relativ leicht erkennen, dass Fortnite ALLE vier Spieler*innentypen aus unterschiedlichen Gründen anspricht und es eben nicht nur ums Töten geht.

Oft gehen mit dieser Bezeichnung „Ballerspiel“ ja Befürchtungen einher, die ich durchaus nachempfinden kann. Die Verrohung der Gesellschaft oder Amokläufer sind meiner Meinung nach aber niemals eine direkte Auswirkung von Ballerspielen an sich, und insbesondere nicht von Fortnite. Hier werden oft Kausalität und Korrelation verwechselt.

Das heißt natürlich nicht, das alle Altersstufen jedes Spiel spielen sollten. Fortnite würde ich z.B. frühestens ab 12 Jahren erlauben. Mit allgemeinen Altersempfehlungen tue ich mich aber oft schwer, da sie der Individualität des Kindes nicht gerecht werden. Wenn Eltern ihr Kind kennen, können Sie das mit Sicherheit selbst besser einschätzen. Goldener Tipp: Spielen Sie zusammen mit Ihren Kindern. So können Sie das Spiel selbst einschätzen und erfahren auch, wie Ihr Kind darauf reagiert.

5. Games wie Minecraft werden immer häufiger in den Unterricht integriert, bzw. Gamification-Ansätze verwendet. Glauben Sie, dass Computer-Spiele in der Zukunft mehr Raum im Unterricht einnehmen werden?

JR: Ich wünsche es mir definitiv. Auf dem Gamescom-Kongress wurde auch letztes Jahr schon heftig diskutiert, ob Spiele die neuen Bücher sind. Ich glaube auf lange Sicht: Ja. Dies betrifft natürlich insbesondere die Sparte Serious Games, die extra für den Bildungsbereich konzipiert werden. Ein großer Vorteil liegt hier mit Sicherheit in der Interaktivität, die mit Videospielen einhergeht.

Dazu kommen Spiele, die in meinen Augen für eine praxisnahe Anwendung in der Schule prädestiniert sind oder angepasst werden können. Roulette ist ja schon oft ein klassisches Beispiel im Mathematikunterricht über Wahrscheinlichkeiten. Herauszufinden, wie die beste Taktik in Spielen wie Risiko, Bohnanza u.ä. ausschauen könnte, wäre mit Sicherheit hochinteressant, zumal hier noch andere Faktoren aus Fächern wie Wirtschaft oder Psychologie mit hineinspielen. Auch Schafkopf wurde letzthin als Vorschlag vom bayerischen Philologenverband eingeworfen. Es müssen also gar nicht immer Videospiele sein.

Ich gehe aber mit meiner „Traumschule“ noch einen Schritt weiter: Die ganze Schule als Spiel. Denn eine Definition von Spiel ist es, in einem risikolosen Umfeld mit festgelegten Regeln zu Testen, ob und wie verschiedene Verhaltensweisen zum Erfolg führen. Dabei ist Scheitern ein wichtiger Lerneffekt. Scheitern im jetzigen Schulsystem ist aber nicht vorgesehen. Das ist schade, denn so geht viel Potential verloren. Dies könnte eine „Spielschule“ wahrscheinlich besser nutzen.

Mehr Informationen zu Julian Ruckdäschels „One best thing – Fortnite“ Vortrag findet ihr auf dessen Blog: https://digitale-bildung-bayern.de/obt-fortnite