Die digitale Bildung nach Corona – Prof. Dr. Julia Knopf im Interview

Die digitale Bildung nach Corona – Prof. Dr. Julia Knopf im Interview
25
Sep

Univ.-Prof. Dr. Julia Knopf ist Inhaberin des Lehrstuhls Fachdidaktik Deutsch an der Universität des Saarlandes und widmet sich insbesondere der Erforschung digitaler Lehr- und Lernprozesse im Deutschunterricht. Wir haben sie zum Thema digitale Perspektiven nach Corona befragt.

Wird man später einmal in der Bildungsforschung den Lockdown als die Zäsur an den Schulen verstehen? Ist das Coronavirus der Katalysator für die digitale Bildung?

Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, wir müssen da noch ein paar Wochen abwarten. Natürlich war digitale Bildung in aller Munde. Ebenso wie die Frage: Was kann Digitalisierung? Wird Sie vielleicht sogar die Lehrkräfte ersetzen? Man hat ganz klar gesehen, dass sowohl Ausstattung, Konzepte wie auch gute Unterrichtsbeispiele fehlen. Ich habe im Moment die Befürchtung, dass viele Schulen sagen: Jetzt bin ich froh, dass bald wieder alles normal läuft, und ich kehre wieder zum Alten zurück.
Ich glaube, es ist uns nicht gelungen in dieser Zeit, wirklich die Vorteile von digitalem Lernen aufzuzeigen. Und es ist eben nicht damit getan, dass wir jetzt Videokonferenzen einrichten können, alle schöne Headsets aufhaben und irgendwelche Handouts hochladen. Das ist ja nicht digitales Lernen. Das heißt, an der Diskussion oder am Diskussionsstand hat sich meiner Meinung nach relativ wenig verändert, denn wir haben vor Corona schon die gleichen Probleme gehabt.

Viele Lehrer*innen arbeiteten sich sehr engagiert in die digitalen Formate ein – auch wenn sie dies vorher eher nur am Rande getan hatten. Was lief aus Ihrer Sicht gut?

Das Erste, was sehr positiv war, ist, dass das Bewusstsein für die Digitalisierung endlich geschärft worden ist. Das zweite sehr positive: Sehr viele Lehrer*innen haben sich sehr stark engagiert und sich in die verschiedenen Möglichkeiten eingearbeitet. Da habe ich gemerkt: Jetzt ist ein Bewusstsein dafür da, dass eine Methode, eine Technologie und ein Inhalt verknüpft werden müssen, um tatsächlich auch Kompetenzen zu vermitteln. Nachdem diese Hürden überwunden sind, kann dann nun auch langsam über Inhalte nachgedacht werden.

Lässt sich aus Sicht der Forschung identifizieren, was nicht so gut lief? Welche Stolpersteine wurden deutlich?

Ich glaube, der zentrale Stolperstein ist schon wirklich die Ausstattung gewesen, und zwar sowohl die Ausstattung an den Schulen als auch bei den Lehrkräften und den Schüler*innen zu Hause. Da hat man gesehen, wie die Bildungsschere auseinanderklafft, dass es extreme Unterschiede gibt. Und wir können momentan noch gar nicht abschätzen, wie stark die schwächeren Schüler*innen wirklich abgehängt wurden durch diese Zeit. Das sehe ich als wirklich ganz große Herausforderung.
Abgesehen von der technischen Ausstattung fehlen uns aber auch ganz klar die Inhalte und die Beispiele. Es bringt nichts, wenn die hundertste Verwaltungssoftware entwickelt wird. Es fehlen uns Apps. Wir müssen schauen, wie bringen wir beispielsweise »Französisch, 9. Klasse, Wortschatzvermittlung« ins Digitale. Nämlich ganz, ganz kleinschrittig. Aber das verkauft sich eben schlecht. Es hat sich schon immer schlecht verkauft. Ein Roboter, den ich herumlaufen lasse, der verkauft sich besser.

schooltogo Screenshot

Lernen trifft Social Media bei der App »school to go«

Wo sehen Sie weitere zentrale Herausforderungen?

Ich möchte hier zunächst einmal die Lehrerausbildung nennen. Immer noch kann es sein, dass Studierende heute einen Abschluss machen und nur wenig von digitalen Medien und zeitgenössischem digitalen Unterricht gehört haben. Ich wäre dafür, dass man darüber nachdenkt, dass man Standards flächendeckend einführt und dass angehende Lehrkräfte nach dem Studium eine entsprechende Qualifikation haben. Gleiches gilt für die Weiterbildung und die ist wahrscheinlich noch das viel größere Problem, denn sie findet nicht flächendeckend statt. Denn wir müssen ehrlich sein. Wir haben es schon in vielen anderen Kompetenzbereich nicht geschafft, flächendeckend kontinuierlich weiterzubilden. Das sieht man auch, wenn man die Bundesländer vergleicht. In manchen Bundesländern ist die Weiterbildung freiwillig, und dann sind nur ein paar Fortbildungen. Also muss ich entgegen dem Willen vieler Landesinstitute darüber nachdenken, ob diese nicht auch komplett umstrukturiert wird und ob entsprechende Onlineformate zur Verfügung gestellt werden. . Es muss doch eigentlich gar nicht mehr die Tagesfortbildung sein, wo die Lehrkräfte an irgendeinen Ort kommen. Vielleicht haben sie auch mal Lust, sich am Abend eine Stunde zu einem Thema fortzubilden oder am Nachmittag, wenn sie sowieso etwas vorbereiten. Aber die Schwierigkeit ist, dass jedes Bundesland das für sich macht. Und meiner Meinung nach muss nicht das passieren, was im Moment mit den einzelnen Plattformen passiert, nämlich dass jedes Bundesland sein eigenes Süppchen kocht. Ich weiß, wir haben das föderalistische Prinzip. Es ist schwierig, aber warum muss das sein? Warum können wir das nicht bündeln? Und warum können wir nicht sagen: Wir machen jetzt die Weiterbildungsplattform für Lehrkräfte oder das Weiterbildungsangebot online, aber auch mit Workshopformaten in Präsenzen Ich glaube, das alte Fortbildungsformat hat ausgedient.

Verlage, Hochschulen etc. stellten im Frühjahr in kurzer Zeit den Schulen Onlinematerialien zur Verfügung. Konnte damit erfolgreich gelernt und guter Unterricht gemacht werden? Wie haben Sie das erlebt?

Wenn ich im Internet unterwegs bin, habe ich das Gefühl, dass wir im Ver¬gleich zum Printbereich einen extremen Rückschritt machen, wenn es ins Digitale geht. Dies hat verschiedene Gründe. Ich glaube, dass viel zu viele Leute sich da¬rum kümmern, die eigentlich nichts mit Bildung am Hut haben. Zudem fehlen die Kriterien. Die Lehrkräfte haben ein¬fach oft nicht gewusst: Was ist gut, was ist schlecht? Weil sie die Erfahrung nicht haben. Woher auch? Also nehmen sie das, was es gibt, und setzen es ein, auch wenn sie damit nicht zufrieden sind.
In der Geschwindigkeit, wie wir die digitalen Inhalte brauchen, schaffen wir es nicht, sie zu entwickeln. Aus diesem Grund haben wir mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gerade das Projekt »Clever« gestartet. Ziel ist es, die eine KI-basierte Software zu entwickeln. Diese wird in der Lage sein, Inhalte teilautomatisiert zu entwickeln, um so die Lehr- und Lernmittelentwicklung zu beschleunigen.

Mit einem anderen Projekt, school to go, zeigen Sie, wie Sie sich gute Angebote für das digitale Lernen vorstellen. Was ist das Besondere an Ihrem Projekt?

Wir möchten aktiv Inhalte zur Verfügung stellen, und zwar so, wie die Mediennutzung junger Leute und auch Erwachse¬ner heute ist, also im Social-Media-Stil. school to go ist so entwickelt, dass die Angebote kachelartig wie bei Pinterest angeordnet sind und dass ich nur ganz einfache Suchmechanismen habe. Es muss schnell gehen: Fach, Jahrgangsstufe, Thema, danach kann ich suchen. Und je mehr Inhalte drin sind, desto differenzierter kann man auch diese Schulprozesse gestalten. Es kommen täglich auch jetzt noch neue Materialien auf die Plattform. Sie sind alle von uns qualitätsgeprüft auf der Basis der Bildungsstandards.

Verschärft der digitale Unterricht die soziale Frage? Bleiben bei digitalen Unterrichtsformen und Distance Learning Kinder und Jugendliche aus bildungsferneren Elternhäusern auf der Strecke?

Ich glaube, man muss da ehrlich sagen: Ja. Und die Studien zeigen es ja auch alle. Sie belegen, dass dies im Moment tatsächlich der Fall ist. Das fängt an bei der Ausstattung und geht weiter übers Kümmern. Vor Kurzem kam eine Studie heraus, in der es hieß, dass die Nutzungszeiten am Handy und am Laptop bei den Kindern wahnsinnig gestiegen sind. Diese Dinge sind alarmierend, und ich glaube, dass, je schwieriger das soziale Umfeld ist und je weniger in den Familien ein Bewusst¬sein für die Notwendigkeit des Lernens vorhanden ist, desto schwieriger ist so eine Zeit des Lockdowns, weil dann eben andere Beschäftigungen gefunden werden. Davor darf man die Augen nicht verschließen, dass das definitiv der Fall ist. Ich glaube, dass das Nicht-Kümmern und das Nicht-bewusst-Machen, dass Lernen wichtig ist, die zentrale Herausforderung darstellt. Wir müssen daher in den Schulen frühzeitig ein Lernbewusstsein bei den Kindern anbahnen und ihnen zeigen, warum sie in der Schule sind. Denn die Kinder können das nicht von selbst, wenn sie es nicht vorgelebt bekommen. Woher sollen sie es wissen?

Kritische Stimmen betonen, dass sie Angst davor haben, dass das digitale Lernen das klassische Lernen ablöst. Wie sehen Sie das Verhältnis von analogem zu digitalem Lernen?

Guter Unterricht vermittelt Kompetenzen und die sind in den Lehrplänen und Bildungsstandards drin. Jetzt habe ich aber doch viel mehr Möglichkeiten, die ich nutzen kann. Das kann einmal eine App sein. Es kann einmal das Buch sein. Es kann ein ganz normales Arbeitsblatt mit Übungsaufgaben für den Rechtschreibunterricht sein. Es darf nur kein Ausschließlichkeitsprinzip bestehen, denn ausschließlich ist sowohl analog als auch digital schlecht. Das war vor Corona so und das ist auch jetzt so! Es geht um die Kompetenzen, die wir vermitteln wollen und um nichts anderes.

Was bleibt von den Tagen im neuen Schuljahr?

Wichtig ist, dass das Thema im Bewusst¬sein der Forschung und im Bewusstsein der Politik endlich ankommt. Es ist wichtig, dass die Lehrkräfte jetzt frühzeitig mit guten digitalen Angeboten versorgt werden. Aber wenn wir es nicht schaffen innerhalb kurzer Zeit gute und qualitativ hochwertige Angebote zu vermitteln, dann werden wir definitiv in den alten Trott zurückkehren. Ich gehe so weit und sage: Die Politik und die Wissenschaft müssen sich jetzt kümmern, die müssen Sachen entwickeln. Auch die Fortbildungsinstitute müssen jetzt über neue Wege nachdenken. Und dann glaube ich schon, dass Corona tatsächlich als Chance für die Weiterentwicklung des digitalen Lernens gesehen werden kann.

Wie sieht das digitale Lernen in zehn Jahren aus?

Ich glaube, wir müssen schauen, wo wir in zwei Jahren stehen: Denn wenn wir vor zwei Jahren gesagt hätten, dass wir zum Beispiel mit Chatbots anfangen zu lernen und so weiter, dann hätte jeder gesagt: Bist du noch ganz dicht? Die Zyklen sind rasant. Und wir müssen uns trauen, gerade bei den technologisch kurzen Zyklen, Fehler zu machen.

Die Fragen stellte Jörg Schmidt.