Was hat Social Media mit Ökonomie zu tun? – Prof. Dr. Vera Kirchner im Interview

Was hat Social Media mit Ökonomie zu tun? – Prof. Dr. Vera Kirchner im Interview
12
Okt

Prof. Dr. Vera Kirchner ist Professorin für ökonomisch-technische Bildung und ihre Didaktik an der Universität Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Fachdidaktik der ökonomischen Bildung. Wir haben sie zum Thema Social Media und Ökonomie befragt.

#excitingedu: Zum Einstieg: Social Media und ökonomische Bildung – wie passt das zusammen?

Prof. Dr. Vera Kirchner: Das passt hervorragend zusammen! Nur ein ökonomisch gebildeter Mensch kann die sogenannten sozialen Medien mündig nutzen und selbstbewusst entscheiden, zu welchen »Tauschgeschäften« er oder sie im Netz bereit ist. Soziale Medien haben eben auch eine ökonomische Dimension, und ökonomische Kompetenzen können helfen, hier souverän agieren zu können. Das »sozial« in dem Begriffspaar hört sich im ersten Moment immer so vertrauenswürdig an, aber bei allen Chancen, die mit diesen Medien einhergehen, bestehen hier eben auch neue Herausforderungen – für Heranwachsende und alle anderen, die diese Medien nutzen.

Wirtschaftsunterricht ist eine ideale Schnittstelle

Daten sind die neue Währung – dies ist eine wichtige Botschaft, nicht nur für Schüler:innen. Wie kann dies in den Unterricht integriert werden?

In der Tat geht es hier um Wissen und Zusammenhänge, die nicht nur für Jugendliche relevant sind. Ein für mich idealer Ort der Auseinandersetzung mit Fragen an der Schnittstelle von ökonomischer Bildung und Medienbildung ist der Wirtschaftsunterricht – wie er im jeweiligen Bundesland auch heißen mag. Für mich gehören diese Fragen beispielsweise auch, aber nicht nur zu einer zeitgemäßen Verbraucher:innenbildung. Wichtig wäre, dass diese vermeintlich »neuen« Inhalte und Kompetenzen auch in die jeweiligen Curricula aufgenommen und klar benannt werden. Leider sind viele Lehrpläne schon etwas in die Jahre gekommen und berücksichtigen diesen wesentlichen Teil unserer heutigen Lebenswelt nicht oder (zu) wenig.

Welche Schwerpunkte sehen Sie in der Vermittlung der Themen?

Für mich würde es erst einmal um die Erkenntnis gehen, dass grundlegende ökonomische Mechanismen hier ebenso wirken wie offline, und diese dann mit und für Schüler:innen offenzulegen. Vom Output des Bildungsprozesses gedacht, müssten wir uns fragen, welche Kompetenzen Heranwachsende in gegenwärtigen und zukünftigen Lebenssituationen benötigen, um im Hinblick auf soziale Medien mündig agieren zu können.

Ökonomie ist digital geprägt

Drehen wir es einmal um: Kann auch Social Media selbst einen Beitrag zur ökonomischen Bildung leisten?

Davon würde ich ausgehen. Allerdings macht der Konsum von sozialen Medien per se erst mal nicht schlau. Wenn Beispiele aus der Lebenswelt der Heranwachsenden im Unterricht gemeinsam analysiert werden und Jugendliche darüber hinaus nicht nur Videos und Co. konsumieren, sondern auch selbst produzieren dürfen oder in Posts oder über diese diskutieren, würde ich davon ausgehen, dass jede Menge gelernt werden kann. Auf YouTube gibt es beispielsweise jede Menge »Rohmaterial«, was sich – von Lehrpersonen sorgfältig ausgewählt und didaktisch flankiert – sehr gut für einen zeitgemäßen und interessanten Unterricht nutzen lässt.

Welche besonderen Chancen liegen in der Beschäftigung mit dem Thema? Welche Kompetenzen werden den Schüler:innen vermittelt?

Ehrlich gesagt glaube ich, dass das heute schlichtweg zu unserer Lebensrealität dazugehört. Wir müssen uns dieser auch im Unterricht stellen. In vielen Bereichen und auch im Hinblick auf die Ökonomie ist eine Unterscheidung zwischen online und offline eher realitätsfremd. Ökonomie ist heute digital geprägt – ökonomische Bildung muss es deshalb auch sein. Unabhängig davon, ob man in die schon etwas in die Jahre gekommenen Kompetenzen in der digitalen Welt der KMK (2016) oder den aktuelleren Kompetenzrahmen für digitale Kompetenzen der EU schaut (s. Infokasten) wird deutlich: Die ökonomische Bildung kann und sollte hierzu einen Beitrag im Sinne einer umfassenden Allgemeinbildung leisten.

Glauben Sie, dass durch diese Beschäftigung Schüler:innen darin unterstützt werden, ihr eigenes Verhalten auf Social Media bewusster zu gestalten?

Ja, die Hoffnung habe ich. Im Unterricht eröffnet sich Raum zur Analyse, zur kritischen Betrachtung und Reflexion, zum gemeinsamen Diskutieren. Hierfür ist pädagogisches bzw. didaktisches Fingerspitzengefühl gefragt, denn mitunter spielen die Stars in den sozialen Medien eine große Rolle im Leben der Schüler:innen. Hier lohnt es sich, ein oder zwei Gedanken mehr zu investieren, welche Beispiele man mit welcher Intention zum Unterrichtsgegenstand macht.

Digitale Souveränität im Unterricht fördern 

Was benötigen Lehrkräfte, um dieses Thema besser vermitteln zu können? Verstehen Lehrkräfte von Social Media vielleicht selbst zu wenig?

Was die intuitive Nutzung einiger sozialer Medien angeht, haben Heranwachsende vermutlich eine größere Routine. Was beispielsweise die ökonomischen Mechanismen im Hintergrund angeht, würde ich durchaus von einem Wissensvorsprung der Lehrpersonen ausgehen. Unabhängig davon sollte man die Angst nach Möglichkeit beiseiteschieben. Man  muss nicht selbst einen Instagram-Account haben und regelmäßig im Feierabend twittern, um einen zeitgemäßen Unterricht durchzuführen, der die digitale Dimension nicht ausblendet. Die Schüler:innen sind nach meinem Eindruck meist sehr motiviert, auch selbst Beispiele einzubringen oder technisch zu unterstützen – das kann man doch nutzen. Kennen Sie gute Projekte oder Materialien, mit denen Lehrer:innen arbeiten könnten? Was die berufliche Orientierung angeht, finde ich beispielsweise die Reihe »Lohnt sich das?« vom Bayerischen Rundfunk klasse. In dem kurzen Videoformat (5–12 Minuten) werden Menschen im jungen bis mittleren Alter und ihre Berufe porträtiert. Der Stil des Videos lehnt sich dabei an das für YouTube übliche Follow-me-around Format an, in dem die Protagonist:innen vom Aufstehen auf dem Weg zur Arbeit, bei typischen Arbeitsprozessen, aber auch in informellen Momenten wie der Mittagspause bis zum Feierabend und der Rückkehr ins Privatleben sowie der Ausübung von Hobbys begleitet werden.

Prof. Dr. Vera Kirchner ist Professorin für ökonomisch-technische Bildung und ihre Didaktik an der Universität Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Fachdidaktik der ökonomischen Bildung. Wir haben sie zum Thema Social Media und Ökonomie befragt.

Die gezeigten Personen sprechen in den Videos über ihr Einkommen, wie sie damit leben und wofür sie es ausgeben.Bisher sind etwa 50 Folgen erschienen. In diesen werden klassische Tätigkeitsbereiche (wie der der Lehrer:innen), aber auch seltene und moderne Berufe (wie der der Streamer:innen) mit unterschiedlichen Bildungswegen (Ausbildungsberufe, Studiengänge oder auch Personen, die ohne Ausbildung arbeiten) in unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen (angestellt vs. selbstständig) in verschiedenen Branchen und Unternehmensformen dargestellt. Diese Vielseitigkeit und die transparente und umfassende Darstellung in einem kurzen und kurzweiligen Format unterscheidet das Angebot von vielem, was man in klassischen Unterrichtsmedien findet. Für die berufliche Orientierung ist die Videoreihe aus verschiedenen Gesichtspunkten interessant: Das Format ist aktuell und für die Zielgruppe ansprechend produziert, bietet kurze und deshalb sehr unterrichtstaugliche, vielseitige und exemplarische Einblicke in verschiedene Berufe, Karrierewege, aber auch Herangehensweisen der Verbindung von Beruf und anderen Lebensbereichen sowie den Umgang mit dem Einkommen und weiteren finanziellen Aspekten (auch private Vorsorge, Umgang mit Krediten etc.). Im Sinne moderner Minivideo-Fallstudien ermöglichen die Videos der Reihe kurze, aber weitreichende Einblicke und zeigen Zusammenhänge zwischen beruflichen und anderen Lebensbereichen wie finanziellen Entscheidungen und Fragen der persönlichen Lebensgestaltung (u. a. Ausgleich von Arbeit und Freizeit, Mobilität). Auch der Vergleich zwischen verschiedenen Berufswegen ist didaktisch interessant, ebenso wie die Tatsache, dass reale moderne Lebensläufe mit ihren Umwegen gezeigt werden. Neben den Videos selbst können auch die Kommentare unter den Videos Anlass für Diskussionen im Hinblick auf Fragen zur beruflichen Orientierung bieten oder die Videos als Folie dienen, selbst ähnliche Videos in diesem Stil zu produzieren. In der einen oder anderen methodischen Herangehensweise bieten sie gedankliche Anregungen, sich mit den eigenen beruflichen und lebensbezogenen Vorstellungen in der Abgrenzung zum Gezeigten auseinanderzusetzen und Einblicke in exemplarische Lebensverläufe und vielleicht noch unbekannte Berufe und Berufsfelder zu erhalten.

Das Kernproblem: Wie kann das Problemfeld erörtert werden, ohne in »stumpfe Kultur- und Medienkritik« zu fallen?

Auch was die digitale Bildung angeht, sind wir meines Erachtens spätestens nach der Coronakrise in einem (hoffentlich) neuen Zeitalter. Anstatt den Schüler:innen das Smartphone wegzunehmen, sollten wir es ihnen im Fachunterricht gezielt in die Hand geben, es nutzen, wenn es sich anbietet, und einen reflektierten Umgang fördern. Die Lebenswelt ist heute eine digitale, das müssen wir anerkennen und fachlich reflektieren. Die Schüler:innen brauchen solche Kompetenzen in gegenwärtigen und zukünftigen ökonomisch geprägten Lebenssituationen, und wir sollten auch in der ökonomischen Bildung einen Beitrag zur digitalen Souveränität der Heranwachsenden leisten.

Das Gespräch führte Jörg Schmidt.