Guter Informatikunterricht ist für alle

Guter Informatikunterricht ist für alle
5
Mrz

© Universität Oldenburg

Prof. Dr. Ira Diethelm ist Universitätsprofessorin für Didaktik der Informatik an der Universität Oldenburg. Zudem ist sie Mitglied im Präsidium der Gesellschaft für Informatik e. V. und Mitglied im Digitalrat Niedersachsen. Wir haben Sie zum Thema Informatikunterricht an Schulen befragt.

 

 

Informatikunterricht gehört zum Bildungsauftrag

 

#excitingedu: Zum Einstieg eine Situationsklärung: Welchen Stellenwert hat die Informatik an allgemeinbildenden Schulen?

Prof. Dr. Ira Diethelm: Informatik fristet in Schulen in den meisten Bundesländern eher ein Schattendasein. Nur in Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Bayern (und dort nur am Gymnasium) erhalten die Kinder und Jugendlichen Unterricht von vier oder mehr Wochenstunden in ihrer Schullaufbahn. In Hamburg, Berlin, NRW und Baden-Württemberg sind ein bis zwei Wochenstunden Pflicht, die aber teilweise in andere Fächer wie Naturwissenschaften integriert stattfinden können. Von einer flächendeckenden Allgemeinbildung in Informatik sind wir weit entfernt. Zum Vergleich sind in der Schweiz verteilt über die Schulzeit sieben bis acht Wochenstunden vorgesehen. In der Schweiz ebenso wie in England, Polen und Estland beispielsweise beginnt man im Gegensatz zu Deutschland bereits in der Grundschule mit Informatik für alle Kinder.

 

„Computational Thinking“ hilft auch im Alltag

 

Was vermuten Sie? Warum gibt es diese wahrnehmbare Diskrepanz zwischen bildungspolitischen Statements unterschiedlicher Couleur und den tatsächlichen Entwicklungen in den Schulen?

In Deutschland gibt es 17 Bildungsministerien. Die Bundespolitiker*innen dürfen sich einerseits nicht in die Länderhoheit über die Bildung einmischen. Die Länder müssten sich andererseits bei größeren Reformen gleichzeitig bewegen. Bei solch einer Verteilung der Zuständigkeiten ist Stillstand vorprogrammiert. Außerdem kostet die Stärkung eines Faches Geld und Unterrichtsstunden. Die Stunden werden von etablierten Fächern natürlich hart verteidigt. Die Länder haben zudem oft kein Geld für mehr Lehrerstunden oder die zugehörige Lehrkräfteaus- und -fortbildung. Hier wird oft übersehen, dass sich gerade eine Investition in die IT-Kompetenzen aller Kinder und Jugendlichen in jedem Bundesland positiv auswirken würde. Ich bin davon überzeugt, dass es mit mehr IT-Wissen in allen Berufsgruppen auch weniger Reibungsverluste und Fehlentscheidungen geben würde, die die Länder jedes Jahr auch viel Geld kosten.

Informatikunterricht vermittelt viele Kompetenzen:

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Informatik versus Lernen mit digitalen Medien?

 

Informatik und das Lernen mit digitalen Medien bilden für Sie keinen Gegensatz. Dennoch hat man oft den Eindruck, dass dies in den Diskussionen nicht überall so verstanden wird. Wie könnte dieser Graben zugeschüttet werden?

Ich will versuchen, das mit einer Analogie zu erläutern. Nehmen wir den Overheadprojektor oder die Schmalfilme. Als diese Dinge Einzug in die Schule hielten, dachten auch viele, es wäre der Untergang des Abendlandes, aber niemand hätte wegen dieser optischen Unterrichtsmittel den Physikunterricht gekürzt. Heute ist es ganz normal, mal einen Filmausschnitt zu zeigen oder etwas an die Wand zu projizieren. Es sind selbstverständliche didaktische Hilfsmittel, die je nach Entscheidung der Lehrkraft eingesetzt werden oder nicht. Unabhängig davon lernen wir verpflichtend etwas über Hintergründe dieser Medien als Unterrichtsgegenstand. Im Physikunterricht ist dies Optik und im Kunstunterricht lernen wir etwas über Video- und Bildgestaltung sowie Wirkung von Farben, goldenem Schnitt und Kunstepochen.

Mit der Informatik ist es so ähnlich. Wenn ich digitale Medien unterstützend im Unterricht einsetze, ist es etwas völlig anderes, als wenn ich die Prinzipien der digitalen Welt wie Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung als Unterrichtsgegenstand thematisiere. Jedoch einen Unterschied gibt es: Wenn die Lehrkräfte sowie Kinder und Jugendlichen die Phänomene der digitalen Welt besser einordnen können, weil sie etwa wissen, wie das Internet funktioniert oder dass nicht alle Probleme mithilfe von Computern gelöst werden können, dann werden sie auch die digitalen Medien selbstsicherer und effektiver im Unterricht nutzen können. Computer sind nämlich sogenannte universelle Maschinen, sie haben buchstäblich unendlich viele Verwendungsmöglichkeiten. Overheadprojektoren usw. sind es nicht, ihr Funktionsumfang ist begrenzt. Daher ist ihre Bedienung nicht so komplex.

Dies zu verstehen, fällt leider derzeit auch vielen Bildungspolitiker*innen schwer, da sie oft selbst die Hintergründe der digitalen Welt nicht so gut verstehen. Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit nötig.

 

Kurz zur inhaltlichen Klarstellung: Informatikunterricht ist mehr als Programmieren, oder?

Ja, sicher. Es verhält sich ungefähr wie mit Rechnen und Mathematikunterricht, Experimentieren und Chemieunterricht, Schreiben und Deutschunterricht. Programmieren ist das, was man am ehesten noch sehen kann, wenn man in der Klasse ein Foto macht. Es dient ähnlich wie die anderen aufgezählten Fähigkeiten der Problemlösung und dem Erkenntnisgewinn. Der Informatikunterricht hat das Ziel, alle Kinder und Jugendlichen über Informatik im Kant’schen Sinne aufzuklären. Er soll dazu zu befähigen, die Phänomene, die durch IT-Systeme verursacht werden, besser zu verstehen, überhaupt zu hinterfragen, einzuordnen und mithilfe dieser Systeme Probleme zu lösen, sich kreativ auszudrücken und die digitale Welt verantwortungsbewusst mitzugestalten. Dazu gehören ein Grundverständnis, z. B. wie Information und Daten sich zueinander verhalten, was automatisiert werden kann, was aber auch nicht, ebenso wie Grundprinzipien von Netzwerkübertragungen (Protokolle) und der allgemeine Aufbau von IT-Systemen ebenso wie Grundfertigkeiten, die man benötigt um einfache Programme zu schreiben und fremde Programme zu lesen und abzuändern.

Das Internet aus Pappe:

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Alle sollten einmal etwas programmiert haben

 

Welche besonderen Chancen liegen in der Beschäftigung mit der Informatik?

Ich sehe in der Beschäftigung mit Informatik viele Chancen, aber das ist für mich nicht der Punkt. Die Beschäftigung mit Informatik ist meines Erachtens für das Erreichen des Bildungsauftrages zwingend notwendig. Schule hat die Aufgabe, mündige Bürger*innen hervorzubringen und den Kindern und Jugendlichen unabhängig vom Elternhaus alle Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, die für die freie Persönlichkeitsentfaltung und die Sicherung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nötig sind. Diese Mündigkeit ist nur mit der Bildung einer breiten Masse von Menschen zu erlangen, die sich ausreichend auskennen, um beurteilen zu können, worüber die von uns gewählten Volksvertreter*innen eigentlich diskutieren, wenn zum Beispiel über Upload-Filter, Netzneutralität oder Regeln für selbstfahrende Autos abgestimmt wird. Nur wer die technischen Hintergründe und Möglichkeiten kennt, ist in der Lage, auch die Konsequenzen unter philosophischen und ethischen Gesichtspunkten zu beurteilen.

In diesem Sinne ist die größte Chance der Beschäftigung mit Informatik, dass die Zukunft unserer Gesellschaft von möglichst vielen sachkundigen Personen gestaltet wird und nicht nur von Lobbyvertretern und Personen, die glauben, dass man „5G nicht an jeder Milchkanne“ bräuchte. Wer sowas denkt und sagt, hat weder genug Ahnung von Landwirtschaft noch von Informatik und sollte nicht mit der Gestaltung unserer Zukunft betraut sein.

Man sollte daher verpflichtend in der Schule lernen, wie das Internet schon seit 50 Jahren funktioniert, welche Dinge bei Computersystemen immer gleich sind und vielleicht nur unterschiedlich aussehen und welchen theoretischen und praktischen Grenzen Computer und Programme unterliegen. Zum Beispiel hat Alan Turing schon vor ca. 70 Jahren bewiesen, dass nie ein Computer berechnen kann, ob er oder ein anderer Computer abgestürzt ist (Windows fragt, ob wir warten wollen, weil es nicht berechnen kann, ob es sich überhaupt lohnt zu warten). Oder: Computer können zwar den für alle Kolleginnen und Kollegen perfekten Stundenplan berechnen, jedoch nutzt er nichts mehr, wenn die Berechnung erst in 500 Jahren fertig ist.

Alle sollten auch in der Schule einmal etwas programmiert haben. So wie alle in der Schule auch experimentieren, eine Melodie auf einem Instrument spielen oder eine Erörterung schreiben müssen. Es ist wichtig, dass man beim Programmieren erfährt, wie einfach, aber auch wie schwer es ist, einer Maschine Befehle zu erteilen und sie dazu zu bringen, das zu tun, was man will.

Guter Informatikunterricht ist jener, der überhaupt stattfindet, und zwar für alle Kinder und Jugendlichen und nicht nur ein paar Jungs, deren Eltern die Wichtigkeit dieses Faches begriffen haben. Informatikunterricht, bei dem alle Spaß haben, aber keiner was lernt, hilft hier nicht. Informatikunterricht muss den Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften gleichgestellt sein. Das heißt insbesondere, dass die Noten, die es für Informatik gibt, genauso viel wert und aussagekräftig sein müssen wie die der anderen Fächer. Die Attraktivität erhöhen unter anderem sogenannte Unplugged-Aktivitäten (also Unterricht über Informatik ohne Geräte) und Unterrichtthemen, die sozial relevante Probleme in den Fokus stellen, wie Datenschutz und Sicherheitsthemen allgemein, beispielsweise rund um das Thema Smart Home. Unser Projekt SMILE zeigte, dass gerade dieses Thema auch für viele Mädchen interessant ist und sie sich dabei gern mit 3-D-Druck, Programmierung und Wetterdaten beschäftigen. Um vom Nerd-Image wegzukommen, muss – solange man mit Wahlkursen arbeitet – eine Quote von mindestens 40 Prozent Mädchen eingehalten werden. Die Unterrichtsprodukte, die dann auf Schulfesten u. Ä. präsentiert werden, werden dies dann widerspiegeln und automatisch keine militärisch anmutenden Roboter zeigen, sondern mehr Bezug zum Alltag, zur Musik und Kunst.

 

Mit IT2School gemeinsam IT entdecken

 

Konkret nachgefragt: Mit Ihrem gerade ausgezeichneten Projekt IT2School zeigen Sie, wie Sie sich guten zeitgenössischen Informatikunterricht vorstellen. Welche Erfahrungen machen Sie nun?

Wir sind sehr froh, dass sich in der Projektentwicklung alle Beteiligten dazu durchringen konnten, die Materialien frei verfügbar ins Netz und unter Creative Commons zu stellen, so dass jeder die Arbeitsblätter weiterverarbeiten und weitergeben kann. Viele Lehrkräfte melden mir zurück, dass sie gerade die vorgeschlagene Zusammenstellung der Module und Hinweise zur Reihung gut finden. Die Auswahl aus den vielen Ideen im Netz überfordert die meisten. Mit IT2School machen wir Vorschläge, wie man ca. zwei Jahre Informatikunterricht sinnvoll füllen kann. Es sollte für jeden was dabei sein, für die unsichere Lehrkraft ebenso wie für erfahrene, die aber keine Zeit haben, sich tief in Neues einzuarbeiten. Daher haben wir das Material so gestaltet, dass man den Unterricht damit etwa auf der Zugfahrt nach Hause oder während einer Klausuraufsicht oder Freistunde vorbereiten kann. Im Moment entwickeln wir daraus ein Seminar für alle Lehramtsstudierenden, »Lehren und Lernen über die digitale Welt«, das den Studis dabei helfen soll, als Lehrkraft mithilfe von informatischen Grundlagen die Medienkompetenz ihrer künftigen Schüler*innen zu fördern.

 

Ein weiteres Kernproblem: Wo sollen die Schulen die Lehrer*innen für die informatische Bildung finden?

Das Material von IT2School ist für fachfremde Lehrkräfte konzipiert. Das heißt, es ist für engagierte Lehrkräfte anderer Fächer gemacht. Also müssten die Schulen ebensolche engagierten Leute anderer Fächer finden und ihnen IT2School in die Hand drücken und zu einer passenden Fortbildung dazu schicken. Je nach Modul kann man auch ohne die Schulung und ohne weiteres Material sofort loslegen und quasi beim Unterrichten »gemeinsam IT entdecken«. Daher ist dies auch der Untertitel von IT2School. Nicht nur die Kinder und Jugendlichen, sondern auch die Lehrkräfte sind damit gemeint.

Das Projekt IT2School bietet vielfältige Möglichkeiten:

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Ein Blick in die Zukunft: Wie sieht der Informatikunterricht in zehn Jahren aus?

In zehn Jahren wird Informatik vermutlich in fast allen Bundesländern Pflichtfach sein. Voraussichtlich werden es aber ein bis zwei Länder nicht geschafft haben, das Fach für alle Kinder und Jugendlichen verpflichtend vorzusehen und weiterhin an das Märchen vom »digital Native« glauben, so dass ein bis zwei Stunden reichen oder die Kompetenzen auch integriert in anderen Fächern vermittelt werden könnten – so wie man schon vor 30 Jahren diesem Irrglauben aufgesessen ist.