Früher konnten Lehrende davon ausgehen, dass die Inhalte, die sie im Unterricht vermittelten, Schüler*innen ihr Leben lang begleiten. Schüler*innen von heute dagegen werden später Berufe ausüben, die es zum aktuellen Zeitpunkt vielleicht noch gar nicht gibt. Sie werden in einer Welt leben, von der wir heute noch gar nicht genau wissen, wie sie aussehen wird.
Wie können Lehrkräfte ihre Lernenden darauf vorbereiten? Diese Herausforderung fordert innovative Ansätze, und hier kommt der systemische Innovationsansatz des Design Thinking ins Spiel.
Was ist Design Thinking?
Design Thinking ist ein innovativer Problemlöseansatz. Ein entscheidender Punkt dabei ist, die Lernenden mit all ihren Bedürfnissen in den Fokus zu nehmen, für sie werden Lösungen entwickelt. Design Thinking ist durch eine gemeinschaftliche Arbeits- und Denkkultur geprägt, die auf drei wesentlichen Elementen beruht: einem kooperativ handelnden Team, einem die Kreativität fördernden Raum und einem strukturierten, ergebnisoffenen Prozess.
Schüler*innen von heute werden Berufe ausüben, die es aktuell noch gar nicht gibt.
Das Team
Bei der Zusammenstellung der Teams fürs Design Thinking ist darauf zu achten, dass deren Mitglieder möglichst viele verschiedene Talente besitzen. Dadurch ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, neuartige Lösungen für ein Problem zu entwickeln. Wichtig dabei ist es, darauf zu achten, dass alle Teammitglieder gleichberechtigt sind und eine positive Feedbackkultur pflegen.
Der Raum
Die Umgebung, in der wir arbeiten, kann unsere Kreativität entscheidend beeinflussen. Dies sollte bei der Raumgestaltung hinsichtlich des Design Thinking berücksichtigt werden. Der Raum soll durch seine Ausgestaltung zum Experimentieren und Visualisieren einladen. So lassen sich Zusammenhänge besser erkennen, und das Team baut ein gemeinsames Verständnis für das gewählte Thema aus.
Der Prozess
Um den Teams Orientierung und der Arbeitsweise Struktur zu verleihen, folgt Design Thinking einem systematischen sechsstufigen Prozess, wie er an der HPI School of Design Thinking in Potsdam gelehrt wird. Dieser Prozess läuft nicht linear ab, sondern in sogenannten Iterationsschleifen, das heißt, jede Prozessphase kann bei Bedarf auch wiederholt durchlaufen werden. Dadurch lernen die Schüler*innen eine positive Fehlerkultur, die dann dazu führt, Ergebnisse schrittweise zu optimieren. Schauen wir uns die einzelnen Phasen im Detail an.
Die sechs Phasen des Design-Thinking-Prozesses
-> Phase 1: Problemfeld verstehen
In dieser Phase geht es darum, das entsprechende Problemfeld möglichst unvoreingenommen und offen ohne vorgedachte Lösungen anzugehen und sich mit viel Spaß am Erforschen und Lernen auf das jeweilige Thema einzulassen. Jedes Design-Thinking-Projekt beginnt mit der »Design Challenge«, dem eigentlichen Auftrag für das Projektteam. Wichtig bei der Fragestellung ist es, dass immer die Menschen mit ihren Bedürfnissen im Vordergrund stehen und die Fragestellung stets konkret genug ist, ohne Lösungen vorzugeben.
Beispiele im Kontext Schule könnten folgende Fragestellungen sein: – Wie können wir einen Schulhof so gestalten, dass Schüler*innen aller Altersklassen sich während den Pausenzeiten gerne dort aufhalten? – Wie können wir ein Klassenzimmer so gestalten, dass Schüler*innen selbstorientiertes Lernen ermöglicht wird? Das Ziel dieser Phase ist es, das Problem und sein Umfeld aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und so einen gemeinsamen Ausgangspunkt zu schaffen
-> Phase 2: Beobachten (Empathie aufbauen)
Dies alles führt dazu, dass die Frage danach, wie gutes Lernen, wie guter Unterricht funktionieren kann, völlig neu gestellt werden muss. In der zweiten Design-Thinking-Phase soll möglichst viel über das eigentliche Problem gelernt werden. Das Team macht sich also mittels Interviews und der Beobachtung von potenziellen Betroffenen mit den Motivationen, Bedürfnissen und Zielen der beteiligten Personen vertraut und baut Vorurteile ab. Ziel dieser Phase ist die Entwicklung eines empathischen Verständnisses für die Welt der anderen.
-> Phase 3: Standpunkt definieren
In dieser Phase geht es darum, die Vielzahl von Informationen aus der zweiten Phase zu strukturieren und für die weiteren Schritte zu priorisieren. Das Team analysiert die Erlebnisse und Erfahrungen aus der Empathiephase. Die Synthese als Verdichtung von Informationen zu einem Standpunkt, dem »Point of View«, ist ein Instrument aus dem klassischen Design und vielleicht das, was Design Thinking seinen Namen eingebracht hat. Das Ziel dieser Phase ist es, dass das Team das Problemfeld eingrenzt und sich darauf einigt, auf welche Nutzergruppe und auf welches Problem es sich im weiteren Verlauf konzentrieren will.
Design Thinking trainiert den Umgang mit komplexen Problemen.
-> Phase 4: Ideen generieren
In dieser Phase findet das Team Möglichkeiten, wie die gemeinsam entdeckten Probleme gelöst werden können. Hierbei ist eine offene Haltung gegenüber neuen Ideen gefragt: Der »innere Kritiker«, das vorschnelle Bewerten und die typischen »Ja, aber«- Einwände werden zurückgestellt, und es darf in unterschiedliche Richtungen gedacht werden. Während der Ideenfindung geht Quantität vor Qualität, die Ideen dürfen verrückt und abseits konventioneller Lösungen sein. Ziel der Phase ist es, dass das Team zu Brainstormingfragen eine Vielzahl an verschiedenen Lösungsmöglichkeiten entwirft. Die Teammitglieder regen sich gegenseitig dazu an, auf den Ideen der anderen aufzubauen und gemeinsam neue Lösungen zu entwickeln.
-> Phase 5: Prototypen bauen
Um den nutzerzentrierten Lösungen möglichst nahe zu kommen, ist es unabdingbar, mögliche Lösungen von Anfang an mit den potenziellen Nutzer*innen anhand von Prototypen zu testen und deren Feedback in die Weiterentwicklung der Lösung zu integrieren. Dabei spielt es keine Rolle, wie unfertig der Prototyp einer Lösung zu Beginn ist. Prototypen können die grundsätzliche Lösungsidee veranschaulichen oder nur ganz spezielle Aspekte der Lösung.
Der Prototyp wird mit einfachen Materialien wie Knete, Strohhalm, Tonpapier oder Klebeband erstellt oder mit Rollenspielen, gestalteten Räumen und einfachen Darstellungen von Softwarelösungen erlebbar gemacht. Das Ziel dieser Phase ist es, dass die Schüler*innen gemeinsam ein konkretes Modell entwickeln. Eine vage Idee bekommt Konturen, kann anderen präsentiert werden und wird dadurch testtauglich.
-> Phase 6: Prototypen testen
Beim Testen kommt das Team wieder mit Personen in Kontakt, die von der Herausforderung direkt betroffen sind und für die es das Problem lösen möchte. Diese Bezugsgruppe lernt den Lösungsansatz durch den Prototypen kennen und kann sofort Feedback geben. Ziel der Phase ist es, anhand von Nutzerfeedbacks die Lösung der Schüler*innen stärker den Vorstellungen und Wünschen der potentiellen Nutzer*innen anzupassen.
Wie können Schüler*innen von Design Thinking profitieren?
1. Probleme gemeinsam im Team lösen
Design Thinking trainiert den Umgang mit komplexen Problemen. Die Lernenden haben die Chance, Problemstellungen in Teamarbeit zu verstehen und in einem strukturierten Prozess gemeinsam anzugehen. So entwickeln sie bereits in der Schule eine kooperative Problemlösekompetenz.
2. Sozialkompetenzen und Teamfähigkeit
Die Fähigkeit, tragfähige Beziehungen aufzubauen und im Team zu arbeiten, wird immer wichtiger. Die Arbeit mit Design Thinking bietet eine gute Voraussetzung dafür, dies zu trainieren. Gruppenübung, Teamreflexionen und regelmäßiges Feedback unterstützen die Teamarbeit und das gegenseitige Verständnis. Durch die Arbeit in wechselnden Teams bauen die Heranwachsenden zudem ihre sozialen Kompetenzen aus: Sie üben, sich gegenseitig zuzuhören, aufeinander einzugehen, Lösungen aus verschiedenen Perspektiven wahrzunehmen und unterschiedliche Meinungen zu respektieren.
3. Arbeit eigenständig organisieren und strukturieren
Die Lernenden erleben, Projekte im Team systematisch und eigenständig durchzuführen. Wichtig ist dabei zum Beispiel, wie eine Agenda aufgestellt wird, wie die Empathie und Ideenfindungsphasen strukturiert werden oder wie eine Feedbackrunde organisiert wird. Die Schüler*innen erfahren, dass es nicht nur um das Was (den Arbeitsgegenstand), sondern auch um das Wie (die Arbeitsweise) geht.
4. Wertschätzende Feedbackkultur
Design Thinking integriert das Einholen und Geben von Feedback in den Arbeitsprozess und lässt es zu einem Teil des täglichen Miteinanders werden. Nach jedem Projekttag und nach jeder längeren Arbeitsphase wird die gemeinsame Arbeit konstruktiv reflektiert. Dabei lernen Schüler*innen, wie sie respektvoll miteinander kommunizieren, und erfahren, wie wichtig es ist, Dinge anzusprechen, die nicht so gut funktioniert haben. Gemeinsam sucht das Team nach neuen Strategien, wie die Zusammenarbeit in Zukunft noch verbessert werden kann. So erkennen die Heranwachsenden, dass ein Konflikt immer auch eine Chance zur Weiterentwicklung ist.
5. Positive Fehlerkultur
Durch den interaktiven Ansatz lässt Design Thinking Raum zum Mutigsein, aber auch zum Scheitern. Nutzer*innen werden um Feedback gebeten, sobald der erste Prototyp einer Idee steht. So wird frühzeitig erkannt, was an der Idee eventuell noch nicht funktioniert. In der weiteren Arbeit nutzt das Team die Erkenntnisse, um die Idee weiter zu verbessern.
Dadurch entsteht eine neue Fehlerkultur: Fehler sind nichts Schlimmes, sondern bieten eine Chance, um Inhalte und Zusammenhänge besser zu verstehen und Lösungen weiterzuentwickeln. Die Schüler*innen erkennen, dass Fehler wichtige Aspekte von Erfolg sind, verlieren die Angst davor, etwas falsch zu machen, und entwickeln Mut zum Experimentieren.
6. Kreatives Selbstbewusstsein
Im Design-Thinking-Prozess lernen die Schüler*innen, Probleme strukturiert zu verstehen und anschließend kreativ zu lösen. Sie trainieren dabei, auf komplexe Fragestellung zuzugehen und sie als Herausforderung wahrzunehmen. So entwickeln sie ein kreatives Selbstbewusstsein, das sie befähigt, persönliche und gesellschaftliche Herausforderungen nach eigenen Vorstellungen mitzugestalten.
Wie können Lehrende von Design Thinking profitieren?
1. Unterrichtsgestaltung um neue Methoden erweitern
Als Lehrkraft steht man ständig vor der schönen und kreativen Aufgabe, den Unterricht zu gestalten. Die vielfältigen Methoden, die im Rahmen von Design Thinking genutzt werden, können hierbei zu neuen Ideen inspirieren und unterstützen dabei, empathisch zu reagieren und produktiver zu arbeiten. Man kann die Methoden entweder für Unterrichtsgestaltung anwenden oder auf andere Formate ausweiten, etwa Zeugniskonferenzen, Elternabende oder Fachschaftssitzungen.
2. Unterrichtsvorbereitung mit erweiterter Perspektive
Design Thinking kann bei der Gestaltung von nutzerzentrierten Konzepten unterstützen. So kann etwa das bewusste Eintauchen in die Empathiephase einen neuen Zugang zur Perspektive der Schüler*innen ermöglichen. Dadurch entstehen Konzepte, die an konkrete Bedürfnisse der Schüler*innen angepasst sind. In der Phase »Ideen generieren« können Lehrende üben, auf Ideen und Konzepten anderer Lehrender aufzubauen und diese weiterzuentwickeln. Auch wenn lieber allein gearbeitet wird, gibt der Design-Thinking-Prozess genügend Struktur, um neue Denkweisen, Perspektiven und Bedürfnisse in die Unterrichtsvorbereitung einzubinden.
3. Feedback und Fehlerkultur neu erleben
Durch eine offene Feedbackkultur lässt sich die Zusammenarbeit zwischen Lehrenden erleichtern und bereichern. Regelmäßiges Feedback bietet Raum zum Abgleich von Eigen- und Fremdwahrnehmung und fördert so die persönliche Entwicklung. Lehrende können sich gegenseitig Feedback geben oder die Schüler*innen um eine ehrliche Einschätzung ihrer Arbeit bitten.
Dies wird vor allem wichtig, wenn neue, vielleicht sogar etwas experimentelle Unterrichtskonzepte ausprobiert werden. Wichtig ist es, sich nicht entmutigen zu lassen, wenn etwas noch nicht so gut ankommt. Diese Erkenntnis sollte vielmehr als Chance genutzt werden, die eigenen Ideen weiter zu verfeinern.
4. Stressreduktion durch selbstorganisierte Schüler*innen
Auch wenn die Einführung von Design Thinking im Unterricht zunächst etwas aufwendig ist, auf lange Sicht gesehen kann sie dabei helfen, den eigenen Stresslevel zu reduzieren. Wie bereits mehrfach herausgestellt: Teamarbeit ist ein wichtiger Bestandteil von Design Thinking. Dies ist dabei so angelegt, dass erfahrene Teams ihre Aufgaben selbst strukturieren und selbstständig ausführen. Je geübter die Schüler*innen in selbstorganisierter Teamarbeit werden, desto weniger Energie muss in die eigene Unterrichtsvorbereitung gesteckt werden.
5. Von Vermittler*in zu Lernbegleiter*in
Wie wird die Rolle von Lehrenden in Zukunft aussehen? Wird es weniger darum gehen, Fachwissen zu vermitteln, und mehr darum, Schüler*innen dabei zu begleiten, Wissen selbstständig zu erarbeiten? Fragen wie diese werden seit Längerem diskutiert. Um die Neugierde darauf zu erleben, wie sich ein Rollenwechsel von Vermittler*in zu Begleiter*in anfühlt, bietet Design Thinking ein gutes Experimentierfeld.
6. Motivation durch Freude am Machen
Nicht zuletzt möchte ich betonen, wie viel Freude die Arbeit mit Design Thinking machen kann. Durch die wertschätzende Arbeitskultur, die unterschiedlichen Perspektiven der einzelnen Teammitglieder und die kreativen Phasen, die so viel Raum zum Experimentieren lassen, wird die Arbeit mit Design Thinking selten langweilig. Vielmehr motiviert sie dazu, Probleme konstruktiv anzugehen und neugierig nach Lösungen zu suchen. So entsteht eine optimistische Machermentalität, die sowohl Schüler*innen als auch Lehrenden dabei hilft, beim Arbeiten und Lernen Freude zu haben.
Joachim Oest ist Gründer und Leiter von »Deichdenker – Institut für zeitgemäße Bildung und Innovation« und führt regelmäßig Workshops und Lehrkräfteausbildungen zu Design Thinking im Unterricht durch. Er unterrichtet zudem das Fach Mathematik und war zehn Jahre Fachleiter am Staatlichen Studienseminar für Realschulen in Mainz.