Wer schützt unsere Kinder? – Ein Interview mit Silke Müller

Wer schützt unsere Kinder? – Ein Interview mit Silke Müller
17
Jun

Wir dürfen unsere Kinder mit künstlicher Intelligenz (KI) nicht allein lassen. Silke Müller, Schulleiterin, Digitalexpertin und Bestsellerautorin erklärt, was die KI-Revolution für Bildung und Erziehung bedeutet. Und sie gibt praktischen Rat, wie Eltern und Schule ihre Kinder schützen und kompetent begleiten.

In Wir verlieren unsere Kinder warnten Sie vor den Gefahren von TikTok, Snapchat & Co. für unsere Kinder. Nun beschäftigen Sie sich mit künstlicher Intelligenz (KI) und fragen: »Wer schützt unsere Kinder?« Wo lauern denn bei KI die Gefahren für unsere Kinder?

In meinem aktuellen Buch Wer schützt unsere Kinder? beleuchte ich die komplexen Herausforderungen, die die rasante Entwicklung der künstlichen Intelligenz für unsere jüngste Generation, aber auch für uns als Gesellschaft im Alltag mit sich bringt. Mein Anliegen ist es keineswegs, eine Zukunftstechnologie zu dämonisieren, der ich selbst fasziniert gegenüberstehe. Vielmehr bin ich ein absoluter Verfechter dieser innovativen Technologien mit der Überzeugung, dass in ihnen das Potenzial für eine transformative gesellschaftliche Weiterentwicklung liegt. Doch diese positive Vision kann nur dann Realität werden, wenn wir die inhärenten Risiken, die speziell unsere Kinder betreffen, nicht nur erkennen, sondern auch aktiv adressieren. Die Gefahren, die ich in Wer schützt unsere Kinder? skizziere, entspringen nicht der Fantasie, sondern sind real und greifbar, manifestiert durch meine eigenen Beobachtungen und die vieler anderer im Schulalltag und darüber hinaus. Viele Beispiele und Fälle aus dem Alltag der Kinder und Jugendlichen geben einen Einblick, welche Probleme und Fälle bereits jetzt in den Schulen und in der Lebenswelt der Kinder zum Alltag gehören, ohne dass die meisten Erwachsenen hiervon Kenntnis bzw. ein Bewusstsein dafür haben.

Die Fähigkeit der KI, überzeugende Fälschungen zu erzeugen – von Nachrichten über Videos bis hin zu Stimmen – öffnet Türen für eine neue Dimension des Cybermobbings, der Demütigung und der Desinformation. Diese Technologien haben das Potenzial, die Seelen unserer Kinder tiefgreifend zu verletzen, indem sie deren Realitätswahrnehmung verzerren und sie emotionalen Risiken aussetzen, die weit über das hinausgehen, was wir bisher kannten. Die Herausforderung liegt nicht nur in der Technologie selbst, sondern auch in unserem scheinbar kollektiven Unvermögen, uns adäquat mit ihr auseinanderzusetzen. Ein Mangel an Verständnis und Interesse, gepaart mit der langsamen Anpassung unseres Bildungssystems, das einer charmanten Ruinenverwaltung gleicht, birgt die Gefahr, dass wir unsere Kinder in einer digitalen Welt allein lassen, in der sie ungeschützt Manipulation und unreflektiertem Konsum ausgesetzt sind.

KI dringt in die intimsten Bereiche unseres Bildungswesens ein

Wie beeinflusst KI die Beziehung zwischen Kindern, Familie und Bildungseinrichtungen?

KI hält uns irgendwie einen Spiegel vor und erinnert uns eindringlich daran, was im Kern menschlicher Beziehungen unersetzlich ist: die echte, lebendige Verbindung, die nur zwischen Menschen, die atmen, denken und fühlen, entstehen kann. Jedes Gespräch zwischen Eltern und Kind, Lehrkraft und Schüler ist nicht durch KI zu ersetzen. Diese Verbindung, die in den unzähligen, oft unscheinbaren Momenten des direkten Austauschs, der Berührung und des Blickkontakts lebt, wird durch die digitale Welt herausgefordert, jedoch nie vollständig ersetzt werden können. So glaube und – ehrlich gesagt – hoffe ich.

Doch die Wirklichkeit, die ich in den Fluren der Schulen und den Geschichten der Familien sehe, ist komplexer. KI beginnt, die Art und Weise, wie wir kommunizieren und interagieren, subtil zu verändern. Entschuldigungsschreiben und Anträge, die mit einer KI-Unterstützung formuliert wurden, veranschaulichen, wie die Grenzen zwischen dem Menschlichen und dem Maschinellen verschwimmen. Eltern, die Klassenarbeiten durch KI prüfen lassen, um die Korrektheit der Lehrkräfte infrage zu stellen, zeigen, wie Technologie in die intimsten Bereiche unseres Bildungswesens eindringt.

Ich glaube, wir stehen an einem Scheideweg: KI kann einerseits dazu beitragen, dass wir die Bedeutung menschlicher Bindungen neu bewerten und endlich wieder stärken. Sie kann uns dazu anregen, zurückzukehren zu einer Kultur, in der Beziehungsarbeit und direkter Austausch wieder im Mittelpunkt stehen. Andererseits birgt KI eben auch das Risiko in sich, dass wir uns weiter voneinander entfernen, dass Missverständnisse und Konflikte verschärft werden, Differenzen verstärkt werden, man sich sogar weniger zuhört. Es geht vielleicht schon bald nicht mehr darum, sich ernsthaft zuzuhören, sondern sich Gegenargumente schlicht durch ChatGPT vorformulieren zu lassen, ohne dabei selbst nachzudenken.

Diese zwei Seiten der KI – als Brücke zu tieferer menschlicher Verbundenheit oder als Kluft, die uns weiter trennt – ist das zentrale Thema meiner Überlegungen. Daher gilt mein Buch als Aufruf an uns alle, die Technologie bewusst und mit Bedacht einzusetzen und sich vor allem mit menschlicher Sicht mit ihr auseinanderzusetzen, damit sie uns nicht auseinanderdividiert, sondern uns hilft, die Werte menschlicher Nähe und Gemeinschaft zu bewahren. Gerade für Kinder sind genau diese Werte elementar wichtig für Ihre Entwicklung.

Verständnis für die Einflussnahme und das Potenzial der KI entwickeln

Wie sollten Schulen, aber auch das private Umfeld auf die Herausforderungen durch KI reagieren?

Die Herausforderung, die künstliche Intelligenz für Schulen und das private Umfeld darstellt, erfordert eine Reaktion, die sowohl aufgeschlossen als auch proaktiv ist. Anstatt KI mit Skepsis oder gar Ablehnung zu begegnen, sollten wir sie als eine Erweiterung unseres Horizonts und als Innovation im Bildungswesen sowie im häuslichen Umfeld betrachten. Das bedeutet, KI sollte nicht nur als Teil des Lehrplans behandelt, sondern als integraler Bestandteil der Lern- und Lehrerfahrung angesehen werden. Lehrkräfte bedürfen dafür gezielter Weiterbildungen, um die Potenziale und Grenzen der KI zu verstehen und sie sinnvoll in den Unterricht einzubinden. Es geht darum, gemeinsam mit den Schülern in ein Feld der Experimentierfreude einzutauchen und KI als Werkzeug der Entdeckung zu nutzen. Dieser Prozess erfordert eine flexible Anpassung der Lehrpläne und eine Offenheit für neue Lehr- und Lernmethoden, die durch KI ermöglicht werden. Doch es erfordert auch Schnelligkeit und Agilität in einem System, das traditionell eher langsam und bedächtig agiert. Hier sehe ich eine der größten Herausforderungen, denn unser Bildungssystem gleicht für mich derzeit einer charmanten Ruinenverwaltung, in der wir immer mehr versagen, uns diesen Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft ernsthaft anzunehmen. Gleichzeitig sehe ich aber auch die größte Chance für Wachstum und Erneuerung.

Parallel dazu ist es im häuslichen Umfeld entscheidend, ein Verständnis für die Einflussnahme und das Potenzial der KI zu entwickeln – sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht. Das Experimentieren mit KI, sei es durch bildgenerierende Programme oder Textgeneratoren, eröffnet die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten hautnah zu erleben und gleichzeitig ein kritisches Bewusstsein für Grenzen und potenzielle Fallstricke zu entwickeln. Durch solche praktischen Erfahrungen wird nicht nur die Neugier geweckt, sondern auch das kritische Denken gefördert – ein unerlässlicher Bestandteil in der Bildung mündiger, kompetenter Nutzer und Gestalter der KI-Technologien von morgen. Mein Buch Wer schützt unsere Kinder? bietet konkrete Empfehlungen, wie man sich diesen Herausforderungen sowohl in der Schule als auch zu Hause stellen kann.

KI und die ethische Dimension

Wie haben Sie KI in den Unterricht implementiert und wie sichern Sie, dass ethische Grundsätze respektiert werden?

Die Implementierung von künstlicher Intelligenz in den Unterrichtsalltag unserer Schule steht noch in ihren Anfängen, doch die Schritte, die wir unternehmen, sind entschieden und zielgerichtet. Durch die Organisation von Workshops für Lehrkräfte und die Einladung von Experten an unsere Schule schaffen wir eine Grundlage für das Verständnis und die praktische Anwendung von KI im Bildungskontext. Es ist uns wichtig, dass Lehrkräfte aktiv in den Prozess eingebunden werden und ihre eigenen Ideen für den Einsatz von KI im Unterricht einbringen können. So entstehen experimentelle Unterrichtsszenarien, die sowohl von Lehrkräften initiiert als auch von Schülern angeregt werden. Die Neugierde der Schüler, KI-Tools wie ChatGPT für kreative oder unterstützende Zwecke im Unterricht zu nutzen, wird dabei grundsätzlich unterstützt.

Bei all diesen Unternehmungen steht jedoch die ethische Dimension im Mittelpunkt unserer Bemühungen. Es ist uns ein zentrales Anliegen, bereits in der Medienerziehung ein starkes Bewusstsein für die ethischen Fragen rund um den Einsatz von KI zu schaffen. Dies beinhaltet die Auseinandersetzung mit Technologien, die Falschinformationen erzeugen oder Ton- und Videomaterial manipulieren können. Dabei geht es nicht nur um die Technik an sich, sondern vielmehr um die menschliche und ethische Verantwortung, die mit der Nutzung solcher Technologien einhergeht. Die Diskussion ethischer Grundsätze erfolgt bei uns durch das Stellen emotional tiefgreifender Fragen: Was bedeutet es, jemandem durch das Hochladen eines manipulierten Videos in sozialen Netzwerken Schaden zuzufügen? Wie wirkt sich mein Handeln auf mich selbst aus, und was bedeutet es für die Person, die davon betroffen ist? Wie fühlt sich mein Gegenüber dabei? Diese Fragen sollen den Schülern helfen, Empathie zu entwickeln und die Konsequenzen ihres Handelns im digitalen Raum zu reflektieren.

KI bietet Chance, Lehr- und Lernprozesse zu revolutionieren

Wo sehen Sie die Chancen, die KI bietet? Für Kinder, Eltern und Schule?

Die Chancen, die künstliche Intelligenz uns bietet, sind in der Tat enorm und berühren nahezu alle Aspekte des Bildungswesens sowie des täglichen Lebens von Schülern, Eltern und Lehrkräften. Ein Paradebeispiel dafür ist der „Translate-Button“ auf der Homepage unserer Schule, der es Eltern, die nicht deutschsprachig sind, ermöglicht, sämtliche Informationen und Inhalte unserer Website in ihre eigene Sprache zu übersetzen. Diese Funktion fördert die Inklusion und den Zugang zu Informationen auf eine Weise, die vor nicht allzu langer Zeit undenkbar gewesen wäre.

KI unterstützt mich persönlich bei der Erstellung komplexer Elternbriefe, indem sie hilft, diese in einfacher Sprache zusammenzufassen. So können wir sicherstellen, dass alle Eltern, unabhängig von ihrem sprachlichen Hintergrund, wichtige Informationen verstehen. Die Kennzeichnung, dass ein Text mithilfe von KI bearbeitet oder übersetzt wurde, gewährleistet dabei Transparenz und Vertrauen. Im Klassenzimmer eröffnet KI durch eine Vielzahl von Programmen und Anwendungen ganz neue Möglichkeiten. Sie ermöglicht es uns, Lernprozesse stärker zu individualisieren, die Stärken und Schwächen der Schülerinnen und Schüler präzise zu analysieren und darauf basierend maßgeschneidertes Förder- und Fordermaterial zu entwickeln. Dies bedeutet, dass wir in der Lage sind, sowohl Schülerinnen und Schüler, die besondere Unterstützung benötigen, als auch besonders begabte Kinder effektiver zu fördern.

Die Implementierung von KI in Bildungseinrichtungen bietet somit eine beispiellose Chance, die Lehr- und Lernprozesse zu revolutionieren, was allen Beteiligten – Schülern, Eltern und Lehrkräften – zugutekommt.

Eine gerechte Bildungslandschaft schaffen

Wie sehen Sie die Frage der Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit im Kontext von KI?

Die Frage der Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit im Kontext von künstlicher Intelligenz berührt für mich einen neuralgischen Punkt in der Diskussion um die Zukunft unserer Bildungssysteme. Meine Bedenken richten sich insbesondere auf die Verfügbarkeit kommerzieller Programme und Software, die potenziell eine Kluft in der Bildungsgerechtigkeit vertiefen könnten. Es ist entscheidend, dass der Zugang zu diesen KI-Tools nicht durch kommerzielle Hürden beschränkt wird, sondern bundesweit, ja sogar europaweit, jedem Kind uneingeschränkt zur Verfügung steht.

Dieser Appell in Wer schützt unsere Kinder? für einen universellen Zugang ist kein bloßes Wunschdenken, sondern eine dringende Notwendigkeit, um sicherzustellen, dass alle Kinder, unabhängig von ihrem sozioökonomischen Hintergrund, von den Vorteilen der KI in der Bildung profitieren können. Lehrkräfte müssen ebenso in diesen Prozess eingebunden werden, indem sie die notwendigen Ressourcen und Schulungen erhalten, um KI effektiv im Unterricht einsetzen zu können. Nur so können wir eine Bildungslandschaft schaffen, die durch Technologie bereichert wird, ohne dabei die Prinzipien der Chancengleichheit und Gerechtigkeit zu untergraben.

Buchtipp

Wer schützt unsere Kinder

Silke Müller: Wer schützt unsere Kinder? Wie künstliche Intelligenz Familien und Schule verändert und was jetzt zu tun ist. Droemer, 224 S., 21 Euro, 2024

Wer schützt unserer Kinder - Silke Müller
Silke Müller

Silke Müller ist Schulleiterin in Niedersachsen und seit 2021 erste Digitalbotschafterin ihres Landes. Sie kämpft für eine ethische und demokratische Werteerziehung – auch und vor allem in der digitalen Welt. Silke Müller ist (Stief-)Mutter zweier Töchter und lebt in Hatten im Landkreis Oldenburg.