Befinden sich die deutschen Schulen trotz aller Reformbemühungen in der Krise? Was sind die Ursachen? Lassen sich Lösungsansätze entdecken?
#excitingedu sprach hierüber mit dem bekannten Soziologen Aladin El-Mafaalani. Er ist Professor für Migrations- und Bildungssoziologie an der Technischen Universität Dortmund und hat über viele Jahre zu den Themen Bildung, Integration und Rassismus geforscht. Bekannt wurde er u. a. mit seinem Buch „Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft“ (2020).
#excitingedu: Aktuelle Studien kommen zu dem Ergebnis, dass das deutsche Schulsystem sich im Krisenmodus befindet. Bildungs- oder Chancengerechtigkeit scheint mehr denn je eine Utopie zu sein. Ist das zu pessimistisch? Wie schätzen Sie aktuell die Lage ein?
Aladin El-Mafaalani: Ich glaube, dass die Lage noch schlimmer ist. Denn die Studien zeigen ja nicht nur, dass Chancenungleichheit vorherrscht, es zeigt sich auch, dass die Ergebnisse insgesamt schlechter werden – und zwar in allen Schulstufen, egal wie alt die untersuchten Kinder sind.
Wir können einen Rück- bzw. Abwärtstrend in allen Bundesländern beobachten, in allen Altersgruppen bei Jungen und bei Mädchen – und auch hierbei bleibt die Ungleichheit relativ stabil. D. h., die Ungleichheit ist nicht nur nicht besser geworden, vieles andere hat sich zudem verschlechtert. Das ist ein sehr alarmierender Zustand, besonders wenn man berücksichtigt, dass wir historisch gesehen so wenig Kinder haben.
In diesem Jahr feiern doppelt so viele Menschen ihren 60. Geburtstag wie Kinder in die erste Klasse eingeschult werden. Selbst um diese wenigen Kinder kriegen wir uns nicht so anständig gekümmert, dass sie gut gefördert werden. Sie sind die knappe Ressource, denn wenn die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen, sind sie es, die zukünftig den „Laden am Laufen“ halten sollen. Betrachtet man aus dieser Perspektive diesen Abwärtstrend, befinden wir uns mehr als nur in einem Krisenmodus. Es ist ein strukturelles Problem – für mich das größte bestehende innenpolitische Problem.
#excitingedu: Immer mehr Schüler:innen verlassen die Schule mit Abitur, dabei zeigt die ifo-Studie, dass sich die Bildungschancen von Bundesland zu Bundesland erheblich unterscheiden. Interessant: Die beiden laut ifo-Studie „ungerechtesten Bundesländer“ Bayern und Sachsen erzielen beim IQB-Bildungstrend die besten Ergebnisse. Erstaunen Sie diese Ergebnisse?
Aladin El-Mafaalani: Das ist kein neuer Befund. Seitdem wir dazu forschen, kommen wir relativ stabil zu diesen Ergebnissen. Dass Bundesländer wie Bayern oder Sachsen gut abschneiden und die Kinder dort kompetenter gemessen werden, hängt sehr mit der Grundschule zusammen. Es liegt nicht am weiterführenden Schulsystem, es liegt auch nicht daran, dass es dort verbindliche Übergangsempfehlung gibt oder was auch immer in der weiterführenden Schule stattfindet. Die besseren Ergebnisse sind schon vor der weiterführenden Schule da.
Das bedeutet, dass die besseren Ergebnisse kein Lob für das weiterführende Schulsystem sind, sondern nur die Feststellung, dass diese Bundesländer ein besser ausgestattetes System insgesamt haben – und vor allem dort sehr wahrscheinlich bestimmte Problemlagen nicht so stark ausgeprägt sind. Bayern zum Beispiel ist ein sehr wohlhabendes Bundesland, dort ist Armutskonzentration von Kindern viel seltener. Dies gilt in etwa auch für Sachsen. Hinzu kommt dort, dass der Kinderrückgang in den letzten Jahrzehnten enorm war und man bei weniger Kindern mehr investieren konnte.
Egal in welches der 16 Bundesländer wir auch schauen: Die Ergebnisse verschlechtern sich. Und überall dort, wo wir im Grundschulbereich besonders starke Problemlagen sehen, stellen wir das auch bei PISA fest. Das ist für mich das Entscheidende dieser Studienergebnisse. Sie belegen, dass wir in Kitas und Grundschulen „wie verrückt“ investieren sollten, denn darin liegt langfristig das größte Verbesserungspotenzial.
Wir können darüber streiten, ob das Bildung ist, was die internationalen Vergleichsstudien messen. Aber was sie messen, messen sie valide, die Ergebnisse sind reproduzierbar. Und wenn bei uns diese Tendenz „rückläufig“ ist und die untersuchten Jahrgänge in den verschiedenen Studien ungefähr den gleichen Trend aufweisen, dann muss man dies ernst nehmen. Insbesondere für den Bereich Kita und Grundschule besitzen wir noch andere weitere Untersuchungen wie das NEPS-Bildungs-Panel. Dort betrachtet man Kinder ab dem dritten Lebensjahr. Es wurde festgestellt, dass vor der Einschulung schon enorm viel und in der Grundschule noch einmal etwas passiert – ab der fünften Klasse eigentlich nicht mehr viel. Wenn man also wirklich etwas erreichen möchte, dann müsste man verstärkt in der Kita, in der Grundschule und vielleicht auch noch in den ersten zwei Jahren der weiterführenden Schule Maßnahmen ergreifen. Der Streit in der Bildungsforschung und in der Bildungspolitik löst sich sofort auf, wenn alle Studien zusammen betrachtet werden, wenn wir uns anschauen, was in der frühen Kindheit und in der mittleren Kindheit passiert.
#excitingedu: Ungerechtigkeit ist im deutschen Bildungssystem selbst angelegt, so eine Ihrer zentralen Thesen. Könnten Sie dies bitte kurz erläutern? Reproduzieren wir tatsächlich weiterhin Klassenunterschiede?
Aladin El-Mafaalani: Ungleichheit entsteht in der Familie und im sozialen Umfeld: der Herkunftseffekt oder die Startchancen. Man muss sich den „Start“ anschauen, der in der Familie stattfindet. In dem aktuellen Schulsystem ist die Familie eine Art Dienstleister bzw. wird sehr viel vorausgesetzt, wie und wobei die Familien bei der Lernentwicklung des Kindes unterstützen müssen.
Je wichtiger die Familien für das Bildungssystem sind, desto stärker wird der Herkunftseffekt und desto mehr wird der Effekt sich auf die Lernentwicklung auswirken. Wenn man es also schaffen würde, das Bildungssystem hiervon zumindest zum Teil zu entkoppeln, also die Bedeutung der Familie für die Lernentwicklung zu reduzieren, dann würde man Ungleichheit reduzieren können.
#excitingedu: Welchen zentralen Herausforderungen muss sich das System stellen – um der Reproduktion der Klassenunterschiede entgegenwirken zu können?
Aladin El-Mafaalani: Die Entwicklung von Sprache, von Motorik und Gesundheit und die Möglichkeit, ein anregendes Umfeld zu haben, wo hier Musikinstrumente sind, dort die Möglichkeit auf Sport besteht, wo Kinder sich systematisch verbessern können. Dies ist eine zentrale Aufgabe der frühkindlichen und primären Bildung – also in Kitas und Grundschulen.
Darüber hinaus müssen Schulen grundsätzlich etwas ändern: Sie müssen zu einem Lebensort für Kinder werden. Und dies nicht mehr nur von 8 bis 13 Uhr, wo „in Reih und Glied“ der Lehrkraft zugehört wird. Schulen müssen sozialpädagogischer werden und umgekehrt müssen Sozialpädagog:innen und Erzieher:innen sich mehr für das systematische Lernen interessieren. Diese Praxis von multiprofessioneller Zusammenarbeit in Teams gibt es in Deutschland bisher kaum, weil nie das Ziel bestand, ungleiche Startchancen zu bekämpfen. Dieses Ziel ist nicht wirklich in dem Bildungssystem angelegt. Deswegen haben wir auch erst seit Kurzem einen Ausbau der Kitas, deswegen haben wir erst in Kürze einen Anspruch auf einen Ganztagsplatz in der Grundschule und so weiter. Selbst die Mitarbeitenden im System sind bis heute nicht wirklich geübt in Teamarbeit bzw. darin, sich gemeinsam an der Lern- und Entwicklungsbiografie der Kinder zu orientieren.
In vielen anderen Staaten arbeiten unterschiedliche Professionen wie Sozialpädagog:innen und Lehrer:innen eng miteinander zusammen – dort definiert der Erfolg des Kindes, was die Professionellen tun. In Deutschland fangen wir jetzt gerade erst einmal damit an, dass beide gemeinsam in einer Organisation arbeiten – und nicht getrennt in Jugendhilfeeinrichtungen und Schulen. Dies ändert sich erst ganz schleichend – und auch nicht flächendeckend.
Das Bildungssystem steht vor großen Herausforderungen, für deren Lösung es aber keine einfachen Schlüssel wie z. B. Ganztag und Multiprofessionalität gibt. Die verschiedenen Professionen besitzen noch keine eingeübte Form der Zusammenarbeit – und sehen sich auch nicht als gleichwertig an. Wir haben immer noch „krasse Hierarchien“ in Schulen. Nicht alle Menschen, die dort arbeiten, agieren auf Augenhöhe miteinander. Es wird lange dauern, bis sich funktionale Routinen etabliert haben. Deswegen kann es auch niemanden überraschen, dass im Augenblick die Studien zeigen, dass Ganztag und Kita-Besuch noch zu keinen wirklichen Effekten führen. Niemand wird schlauer und auch die Ungleichheit reduziert sich nicht, nur wenn man die gemeinsame Luft innerhalb einer Kita riecht.
Aber warum entwickelt sich das nicht? Es ist eine krasse Überforderung, in so kurzer Zeit die Kitas quantitativ zu expandieren, dadurch verliert man Qualität. Das Gleiche gilt beim Thema Ganztag, d. h., im Prinzip werden wir im Krisenmodus bleiben. Und das wird leider auch in fünf Jahren noch nicht gelöst sein. Es sind langfristige Aufgaben, nicht umsonst ist z. B. das Startchancenprogramm auf zehn Jahre angelegt. Ich gehe davon aus, dass wir die nächsten zehn Jahre im Krisenmodus bleiben werden, ganz egal, wie sehr wir uns engagieren.
#excitingedu: Schlägt die Bundesregierung mit dem Startchancen-Programm den richtigen Weg ein? Werden die Schulen gefördert, die es benötigen? Woher können wir wissen, welche Schulen gefördert werden müssen?
Aladin El-Mafaalani: Was die Umsetzung angeht, da sollten wir jetzt erst einmal abwarten. Von den 4.000 Schulen werden ca. 60 Prozent Grundschulen sein, 20 Prozent weiterführende Schulen und 20 Prozent berufsbildende Schulen. Aus meiner Sicht ist es schlau, das so zu machen. Ich hätte sogar 70 Prozent Grundschulen noch besser gefunden, weil in Grundschule tendenziell nur 200 Kinder, in weiterführenden Schulen um die 1.000 Schüler:innen erreicht werden. Rechnet man also nach Anzahl der Kinder, sind die Grundschulkinder in der Minderheit. Aber grundsätzlich ist der prozentuale Ansatz des Startchancenprogramms in Ordnung, die Maßnahme kommt nur sehr spät, sie hätte vor 20 Jahren kommen müssen. Zudem hätte ich es wichtig gefunden, wenn man nach den 4.000 Schulen in einer zweiten Phase, z. B. nach fünf Jahren, das Programm auf alle weiteren Schulen ausweitet. Aber ich bin hier mit meiner Kritik dennoch erstmal zurückhaltend, denn man kann nicht sofort mit allen Schulen starten. Dafür gäbe es überhaupt nicht genügend Personal.
#excitingedu: In Ihrem Buch „Mythos Bildung“ skizzieren Sie vier bildungspolitische Ziele einer BiIdung der Zukunft: Ziel 2 fokussiert die Entlastung der Lehrer:innen, damit diese mehr Zeit für ihr Kerngeschäft bekommen. Wie kann dies bei immer weiteren Anforderungen (Stichworte: Inklusion, Heterogenität, KI) gelingen?
Aladin El-Mafaalani: Im Augenblick ist es so, dass Lehrkräfte all diese zentralen Aufgaben quasi nebenher machen müssen. Zudem sind sie oft für diese Tätigkeiten nicht oder nur unzureichend ausgebildet. Hätte man Sozialpädagog:innen, Erzieher:innen in einer nennenswerten Zahl immer an den Schulen, dann bestünde Hoffnung, dass die Lehrer:innen die Unterrichtszeit effizienter nutzen können.
Lehrkräfte brauchen Support, um entlastet zu werden. Für die vielen zusätzlichen Aufgaben geht Unterrichtszeit drauf. Gerade für benachteiligte Kinder, die nur die Schule als ein anregendes Umfeld zum Lernen besitzen, ist dies besonders nachteilig, denn diese Zeiten fehlen ihnen mehr als Kindern aus wohlhabenderen Familien.
Lehrkräfte müssen entlastet werden. Wie belastet sie sind, erkannt man daran, dass es, seitdem wir messen, nie so viele Austritte aus dem Beamtenverhältnis von Lehrkräften gab wie heute. Alle scheinen gerade von der Titanic zu springen. Nach zehn Jahren als verbeamtete:r Lehrer:in freiwillig auszusteigen, ist ein schlimmes Warnsignal.
#excitingedu: Was sind aus Ihrer Sicht die vier größten Herausforderungen?
Aladin El-Mafaalani: Zunächst einmal die Digitalisierung. Überall auf der Welt wachsen Kinder immer stärker in der digitalen Welt auf. Was das bedeutet? Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass der erste Kontakt mit Pornografie, der erste Kontakt mit Gewaltdarstellung durchschnittlich im Alter von zehn bis elf Jahren stattfindet. Eine andere Studie hat gezeigt, dass zwei von drei Grundschulkindern regelmäßig das Smartphone benutzen. Natürlich kann man das Smartphone auch als Lernhilfe nutzen. Dieses Potenzial wird aber in den Institutionen nicht oder zu wenig genutzt, hingegen bekommen die Kinder aber alle Risiken der Digitalisierung ab. Dass Formen des digitalen Unterrichts in weiterführenden Schulen noch stärker in Angriff genommen werden müssen, ist allen klar. Völlig übersehen aber wird, dass dies in der Grundschule auch eine Riesenrolle spielt.
Die zweite große Herausforderung sind die Familien. Die Varianz, wie Kinder aufwachsen, war ganz sicher noch nie so groß wie heute – von ganz reich, privilegiert und gewaltfrei bis hin zu trostlos verfestigten Armutsstrukturen. Auch die Art der Familienformen, von Regenbogen- und Patchworkfamilien, vollständig und alleinerziehend bis hin zu wie Familie gelebt wird, also was die Eltern mit ihren Kindern zu Hause machen. Diese Pluralität führt dazu, dass ein Schulsystem, das stark auf eine gewisse Vorsozialisierung setzt, also auf eine „gewisse Normalität“ am ersten Schultag, große Probleme bekommt.
Die dritte Herausforderung besteht in der Konzentration von Armut, der Verfestigung von Armutsstrukturen. Mein Kollege Marcel Helbig hat ausgerechnet, wo die höchste Armutskonzentration an Grundschulen besteht und hat daraus eine Deutschlandkarte gemacht. Würden die 4.000 ärmsten Schulen über Startchancen gefördert, würde demnach Bayern kaum Geld aus dem Startchancentopf erhalten. Deswegen ist es auch nicht so überraschend, dass die Schüler:innen in Bayern erfolgreicher sind als in vielen anderen Bundesländern. Und wenn wir schauen, wer das Geld bekommen würde, dann sind das diejenigen, die bei den Kompetenzen schlechter abschneiden und – jetzt kommt es aber – die deswegen bei den Chancen, die Kinder haben, um aufs Gymnasium zu gehen, großzügiger sind. Man könnte vielleicht auch sagen: Es sind Schulsysteme, die aus schlechtem Gewissen großzügig sind.
Der Haupterklärungsfaktor ist die Konzentration von Armut. In Bremen, Berlin oder Nordrhein-Westfalen besteht das zentrale Problem darin, dass viele Menschen arbeitslos sind, viele Kinder von SGB-II-Leistungen leben. Verfestigte Armutstrukturen meint: Armut, die über mehrere Generationen sich verfestigt und sich lokal konzentriert. Das ist für das Bildungssystem eine kleine Katastrophe. Ich bin davon überzeugt, wenn man diese armutskonzentrierten Schulen aus den Studien herausnehmen würde, wären die Ergebnisse in den Studien nicht mehr so schlimm.
Die vierte große Herausforderung ist Migration. Es gibt kaum mehr eine Grundschulklasse in Ballungsräumen, in denen nicht große Sprachprobleme existieren. Ich war vor Kurzem an einer Schule, an der bei weniger als 200 Kindern weit über 20 Sprachen gesprochen werden. Fast alle Kinder dort haben irgendeinen Migrationsbezug – und zwar aus insgesamt 50 Ländern und vielen verschiedenen Religionszugehörigkeiten. Schaut man genau, würde man bei ungefähr einem Viertel dieser Kinder nicht mehr vom statistischen Migrationshintergrund sprechen, da deren Familien in der dritten und vierten Generation in Deutschland leben, das Statistische Bundesamt hätte nur Dreiviertel der Kinder einen Migrationshintergrund zugeordnet.
Wir haben erheblich mehr Diversität in den Klassen als allgemein vermutet. Nach meiner Auffassung haben bald 50 Prozent aller Kinder Migrationsbezug. Die Diversität an vielen Grundschulen in Ballungsräumen ist größer als in den Konzernen dieser Städte. Unser Schulsystem unterstellt aber eine gewisse Normalität. Alle müssen ungefähr das Gleiche können. Jetzt aber sind die Familien immer diverser, durch Digitalisierung die Erfahrungsräume der Kinder immer unterschiedlicher, durch Armut auch die soziale Spreizung immer größer und durch Migration hat sich solch eine Diversität entwickelt, dass eigentlich alle Grundlagen des Schulsystems bröckeln. Vom Lehrkräftemangel sprechen wir hier noch gar nicht.
#excitingedu: Nun nochmals zum Anfang: Unser Bildungssystem ist im Krisenmodus – haben Sie noch Hoffnung, dass wir einen Ausweg finden?
Aladin El-Mafaalani: Wir finden einen Ausweg. Ich glaube nur nicht, dass wir den Krisenmodus in wenigen Jahren verlassen können. Die letzten Ergebnisse bei Grundschultests waren sehr schlecht, d. h. die Ergebnisse der nächsten PISA-Studie werden wahrscheinlich die schlechtesten aller Zeiten in Deutschland werden. Selbst wenn wir jetzt alles richtig machen würden, wird es erstmal noch einige Jahre weiter bergab gehen.
Und trotzdem lohnt es sich zu beginnen. Denn auch wenn man vor eine Wand fährt und merkt, dass der Bremsweg zu lang ist, bremst man trotzdem, nein: sogar erst recht, damit der Aufprall nicht so stark wird. Bremsen lohnt sich immer, auch dann, wenn der Bremsweg zu lang wird.
Der aktuelle Bremsweg ist sehr lang, sodass wir sofort etwas tun müssen, damit die 2030er Jahre besser werden können. Das ist die Zukunft unserer Gesellschaft und alle Menschen unter 50 werden den Unterschied noch erleben können, ob wir jetzt investieren oder aber auch, wenn wir es nicht tun. Ich bin nicht total pessimistisch, ich glaube nur, dass das Problembewusstsein in der Gesellschaft noch nicht wirklich ausgeprägt ist.
Ich glaube, es ist wichtig, das Thema deutlicher öffentlich zu machen. Vielleicht liegt es daran, dass Eltern von Schulkindern demokratisch „irrelevant“ geworden sind. Wir haben relativ wenige Kinder – und entsprechend auch wenige Eltern. Dadurch spielen diese keine große Rolle mehr bei Wahlen. Wie wenig politischen Einfluss Kinder und Eltern besitzen, haben wir in der Pandemie gesehen. Es waren zu wenige. Hätte die Pandemie zurzeit der geburtenstarken Jahrgänge stattgefunden, wo es doppelt so viele Kinder bei wesentlich weniger Einwohnern gab wie heute, da hätten wahrscheinlich die Schulschließungen keine Woche gedauert, man hätte keine Woche Lockdown machen können. Politik muss sich nicht mehr an Eltern und Kindern orientieren. Ein Ausweg wäre, dass die Interessen des Bildungssystems von den Menschen vertreten würde, die in ihm arbeiten. Doch Lehrer:innen sind meist verbeamtet und können nicht streiken oder öffentlich nicht so frei sprechen, wie sie es oft gerne würden.
Ich würde es so zusammenfassen: Es sieht überhaupt nicht gut aus, aber Pessimismus können wir uns nicht leisten. Denn es muss etwas getan werden. Es lohnt sich in jedem Fall.
Das Gespräch führte Annkathrin Rapp.
Aladin El-Mafaalani ist Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Migrations- und Bildungssoziologie an der Technischen Universität Dortmund. Zugleich ist er Teil des SFB 1604 „Produktion von Migration“, der am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück angesiedelt ist. Derzeit ist er u.a. Mitglied im Bundesjugendkuratorium der Bundesregierung und Beauftragter des NRW Familienministeriums (MKJFGFI) in Fragen der muslimischen Zivilgesellschaft.
Aladin El-Mafaalani ist Autor und Herausgeber zahlreicher wissenschaftlicher Schriften. Seine Forschungsarbeiten sind mehrfach ausgezeichnet worden; auch für sein öffentliches Wirken erhielt er mehrere Preise. Außerdem ist er Autor von Sachbuch-Bestsellern wir „Mythos Bildung“ oder „Das Integrationsparadox“.
Der Soziologe und Bildungsexperte Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani hält beim #excitingedu Kongress 2024 am 10. Oktober eine Keynote zum Bildungssystem der Zukunft.
In seiner Keynote mit dem Titel „Schule in der superdiversen Gesellschaft“ wird Prof. Dr. El-Mafaalani die aktuellen Herausforderungen des deutschen Schulsystems beleuchten. Er hinterfragt die bestehenden Ungerechtigkeiten im Bildungssystem und diskutiert die Zukunftsperspektiven für Bildungs- und Chancengerechtigkeit. Ist das deutsche Bildungssystem wirklich in einer Krise ohne Ausweg, oder gibt es noch Hoffnung auf Veränderung? Auch seine persönliche Vision für eine inklusivere Bildungspolitik wird er in der Keynote aufzeigen.
Der #excitingedu Kongress 2024 findet am 09. und 10. Oktober 2024 im Zeiss-Großplanetarium in Berlin Prenzlauer Berg statt. Tickets und alle weiteren Informationen zum Programm gibt es auf der Kongress-Website.